Tage wie diese
Neues Lieblings-Cafe, 50 Cent und Molekularmedizin
Ob ich fünfzig Cent für sie hätte. Ich stand an der Haltestelle. Fünf Minuten brauchte die Bahn noch. Zuerst ging die Frau an mir vorüber. Ich sah ihren Einkaufsroller, obenauf war eine Schlafdecke zusammengerollt. Ihr Gesicht war eingefallen und bleich. Die Haare kurz geschoren. Dann drehte sie um und fragte sehr zögerlich und beinah nicht hörbar nach fünfzig Cent. Natürlich, sagte ich und gab ihr ein paar Euro. Sie bedankte sich und es sei für sie wie Weihnachtsgeld. Ob ich das aus christlichen Motiven machen würde. Nein, sagte ich, sondern weil ich diese Menschen eben als Mitmenschen sehe, als meine Nächsten.
Kennen sie das Werk von Katharina Fritsch: Mann und Maus? Steht im K20 in Düsseldorf. Die Künstlerin vereint in ihren Werken Realität und Irreales. Zu sehen ist ein Bett, in dem liegt ein Mann und auf der Bettdecke sitzt eine riesige Maus. Als wenn sie ihm den Atem nimmt, ihn erdrückt, übermächtig über das Leben scheint. Ängste, Träume verarbeitet das Werk. Es ist aber viel mehr als das, denn es berührt viele Themen, wie etwa die Sinnhaftigkeit des Lebens überhaupt als ständigen Kampf und die Mühe eine gewisse Balance zwischen Sinn und Sinnlosigkeit zu halten, zwischen Wollen und Müssen, zwischen dem evolutionären Drang zur Flucht und den Argumenten zu bleiben, auszuharren. Die Waage des Lebens im Kopf und im Herzen auszubalancieren. Dafür braucht es Gewichte links und rechts und die Waage muss immer wieder geeicht werden. Wenn aber nun Gewichte, also Argumente, auf einer Seite fehlen, dann entsteht ein Ungleichgewicht und das kann Menschen aus der inneren Balance werfen bis zur Obdachlosigkeit.
Ich schreibe diese Begegnungen mit Obdachlosen auf und teile sie, da ich eine Welt öffnen möchte, die vielleicht den einen oder die eine neugierig und mitfühlend für diese Menschen macht. Wie viel man von ihnen lernen kann. Sie sind nicht asozial, sind keine Penner, sie sind nur aus den verschiedensten Gründen gefallen. Ihre innere Waage kam irgendwann aus dem Gleichgewicht.
Sie brauchen keine Angst haben, ich rauche und trinke nicht, nehme keine Drogen, erzählte sie. Sie wolle sich etwas zu essen kaufen. Ich habe keine Angst, gab ich zurück. Es ist zumal Ihre Entscheidung, was sie mit dem Geld anfangen. Ich urteile darüber nicht. Wie lange sie schon auf der Strasse sei, fragte ich. Wohl noch nicht so lange. Ein paar Monate. Dann schilderte sie mir, wie es dazu kam, dass sie obdachlos wurde. Es sind natürlich immer ihre Geschichten. Der ein oder andere lässt vielleicht mal dies und mal das aus, vielleicht weil der Schmerz der Erinnerung, Scham und Realität zu groß ist. Das war mir auch immer klar. Dennoch möchte, nein ich will ihnen glauben, denn in ihrer Welt ist es eben so. Ich urteile darüber nicht. Ihr aber glaubte ich sofort. Ich fragte sie, ob sie fiftyfifty kenne? Die Zeitungen?, meinte sie. Nein, gab ich zurück, ich meine wegen der Hilfsangebote, zum Beispiel der Sozialarbeiter. Ja, die kenne sie, würde sie aber nicht überzeugen, zu viel Macht. Außerdem wäre es doch viel besser, wenn die Obdachlosen ein paar Stunden am Tag einen richtigen Job hätten. Sie hätte selbst einst Sozialwissenschaften studiert. Wir unterhielten uns in der Bahn noch weiter. Wie soll es denn nun weitergehen, fragte ich sie. Sie hätte ein Wohnungsangebot und einen Termin zur Besichtigung. Alles sei geregelt und bis dahin hätte sie einen Schlafplatz.
Lenni und seine Frau ( letzte Texte) waren christlich, das erzählten sie mir. Sie fragten mich ebenfalls danach. Sie tranken auch nicht. Ich roch nie etwas, sah nie eine Flasche irgendwo stehen. Sie achteten trotz allem auf ihre Kleidung und waren immer sauber.
Als ich kürzlich in meinem neu gefundenen Lieblings-Cafe La Corte in Benrath saß, saß hinter mir ein Pärchen mittleren Alters, schätzte ich. Ich bekam mit, dass sie kein Bargeld zum Bezahlen hatten. In diesem Café kann nur mit Bargeld gezahlt werden, das wussten sie vorher nicht. Der Besitzer gestattete ihnen darum später die Rechnung zu tilgen, damit sie zunächst zur Bank gehen könnten. Sie wollte ihren Mann nicht allein gehen lassen, denn offensichtlich hatte er einen Schlaganfall. Also brachte man ihnen Vertrauen entgegen. Ich fand das vom Besitzer sehr nett, ein kleines bisschen Menschlichkeit. Warum kann nicht auch so mit Obdachlosen umgegangen werden? Ist es denn so schwer in ihnen Mitmenschen zu sehen?
Ich lese momentan Bücher von DR. Strunz. Molekularmedizin. Unglaublich spannend. Das interessiert mich, das ist die Substanz seiner Bücher für mich, die ich quasi aufsauge. Diese ganzen Zusammenhänge. Alles belegt er, nennt Quellen und eigene wie Erfahrungen von Patienten/innen. Ich sehe das als die Zukunft der Medizin, denn sie packt dort an, wo die wirklichen Probleme sind, wo Defizite entstanden oder wo ein Zuviel vorhanden ist. Nicht die Symptome und dann Tabletten drauf und alles wird gut, was es ja zumeist nicht tut, sondern dadurch neue Probleme bzw. Krankheiten entstehen können, sondern da wird wirklich am Grund gearbeitet. Natürlich muss da auch wieder differenziert werden. Manchmal geht es wirklich nicht ohne Medikamente. Warum schreibe ich das? Weil sich so eben auch zum Beispiel verstehen lässt, warum Depressionen oder Alkoholsucht entstehen kann. Oder, oder...Warum manche Menschen vielleicht darum den Halt verlieren und auf der Strasse landen, oder wie Aggression rein von der Hirnchemie entsteht, wenn es gewisse Defizite gibt. Oder was nur ein Glas Alkohol im Hirn anrichten kann. Und was wirklich bei Krankheiten Heilung bringen kann, aber zu wenig in die Kassen der Pharma spülen würde. Wie sagten zwei Pharma-Bosse selbst? Sie würden ihre Umsätze nicht verstehen, denn die Medikamente würden nur zu 50 Prozent helfen. Nachzulesen in DR. Strunzs Büchern.
Nur so ganz langsam, sehr langsam dreht sich doch auch der Wind in der konventionellen Medizin, fast hätte ich geschrieben Landwirtschaft. Ist ja gar nicht so weit hergeholt, immerhin sind wir ja auch weiterhin einigen Tieren und sogar Bananen genetisch nahe. Jaja, Bananen, man stelle sich vor. Immerhin wohl 50 Prozent. Wenn man Zusammenhänge versteht, dann fällt es leichter etwas zu ändern, zu verbessern, weil man es nachvollziehen kann. Weil es Sinn ergibt. Sinn ist ja der Grundstein, den wir zumeist im Handeln suchen, oder nicht? Bei der nächsten Banane wird es Ihnen nun seltsam vorkommen in eine Verwandte zu beißen? Kleiner Scherz!
Nein, aber das Prinzip Ursache und Wirkung. Darum geht es doch im Leben. Mit der übergroßen Maus im Kopf irgendwie Kompromisse zu schließen. Jeder Mensch hat wohl so ein Tier auf seiner Bettdecke, Pardon, im Kopf und Herzen sitzen, denn jeder Mensch hat seine Ängste, aber auch Visionen. Oder?
Fotos und Text @Lotta Blau/ Dez.2024