Die Begegnung mit dem Leben
Ich habe dich zu mir gebeten, sagte die Schildkröte. So lange habe ich auf dich gewartet. Nun bist du endlich da. Es wird höchste Zeit, aber was ist schon Zeit?Einmal werde ich es dir erklären.Heute nicht. Die Schildkröte röchelte und hustete dann, dass sich ein kleiner Brocken vom Fels auf ihren Rücken löste und krachend den Hang hinunter rollte.
Das Mädchen traute sich nicht sich zu rühren. Starrte die Schildkröte an. Sie war mit ihren Eltern zu einer Wanderung durch die Berge aufgebrochen und hatte sich kurz entfernt, um nach wilden Walderdbeeren zu suchen. Regungslos stand sie da, fasste dann allen Mut zusammen und sprach:
Wer bist du? Du machst mir Angst. Woher kommst du?
Ich bin das Atmen der Welt. Bin die Sinne und der Herzschlag des Universums. Die Liebe zum Leben und die Uhr allen Wandelns. Ich bin das Auge des Werdens und Vergehens. Meine inneren Zeiger sind keine Uhr, jedoch Zeugen aller Geburt und jedes Sterbens. Ich bin so lange, wie das All existiert. In mir wohnen Sterne, wie der Mond, die Sonne oder der Gesang eines Vogels. Nun, Angst ist manchmal gut. Sie beschützt uns und schenkt uns neue Wege. Aber oftmals ist sie auch schlecht, dann hemmt sie uns und baut innere Mauern ins uns auf. Stein für Stein, die sich nur schwer wieder abbauen lassen. Kleines Mädchen? Nora, so heißt du doch, nicht wahr?
Ja, sagte das Mädchen und traute sich nun, ermutigt von den Worten des Tieres gegen ihre Angst zu fragen: Für was wird es höchste Zeit?
Da senkte die Schildkröte ihre Augen.
Es ist Zeit für neue, gerechtere Wege, die dem Leben dienen und nicht der Zerstörung. Du bist Leben, ich bin Leben - alles lebt. Nimm einmal den kleinen Stein vom Boden und sieh ihn dir an. Nun, was spürst und siehst du?
Nora hob den Stein auf. Ein kleiner, der von der Witterung und den Jahren geschliffen und geformt war. Schon leicht porös auch. Von außen betrachtet ähnelte er mit viel Phantasie einem Herz und im Licht glänzte er ein wenig.
Ich sehe einen Stein,mit Ecken und Kanten und dazwischen ist er beinah weich und zart. Er schaut ein bisschen aus, wie ein Herz und wenn ich ihn in meiner Hand wende, dann sehe ich viele kleine Risse und einen großen. Es könnte sein, dass er in Kürze auseinander bricht.
Das hast du gut beschrieben, sagte die Schildkröte. Es ist scheinbar nur ein Stein. Aber er ist viel mehr als das, denn er ist ein perfekter Spiegel des Lebens. Aller Zusammenhänge. Aus dem All betrachtet, sieht man die Erde mit all ihren Gefäßen - als wäre sie ein perfektes Wesen, dessen Herz seit bestehen dafür sorgt, dass sie leben kann. Tag und Nacht pumpt das Herz alles Notwendige in ihre Kreisläufe. Ihr Gedächtnis ist unvorstellbar groß. Von oben betrachtet sieht es aus, wie ein Netz, das dem im Mensch und Tier, ja selbst Pflanzen ähnelt. Alles speichert sie ab.Alles, was je geschah und geschieht. Jeden Fußdruck auf ihr zum Beispiel. Dein Herzschlag ist mit ihrem verbunden, wie eine Nabelschnur, die nie durchtrennt wird. Sie ist in ständigem Austausch mit dem Universum. Stell dir dies vor, wie eine permanente Datenbahn, in der alle Informationen miteinander ausgetauscht werden. Auch durch und mit dir. Jeden Atemzug strömt das All mit seinem Leben durch dich. Gespeist von Sternen, Meeren, Licht oder den Wäldern. Den anderen Menschen, den Tieren...allem. Die Sterne, die wir am Himmel sehen, sind ein Bild der Vergangenheit, denn sie befinden sich zwar in unserer Gegenwart, aber sie leben und sterben in ihrer eigenen Zeit. Der Regen ist ein Kleid aus den Meeren, den Wüsten, den Bergen, den Tälern und gewebt aus Tränen der Menschen. Freudentränen, wie traurige. Aber es gibt ein zu großes trauriges Weinen auf der Welt. Das Leben ist aus dem Gleichgewicht und sehnt sich nach Liebe, Freude und Gerechtigkeit. Auch nach mehr Stille oder Miteinander, statt Gegeneinander.
Nun wolltest du wissen, für was es höchste Zeit sei. Da komme ich auf den Stein in deiner Hand zurück. Du allein entscheidest, ob du den Stein so zusammendrückst, dass er entzwei bricht oder ob du es ihm selbst überlässt, sich zu teilen. Ich will dir damit sagen, dass ich große Hoffnungen auf dich und alle anderen setze, dass ihr dem Leben endlich ihre eigenen natürlichen Rhythmen zugesteht. Der Mensch greift schon viel zu lange und zu sehr in sie ein. Er entzweit das Herz des Lebens und damit auch der Erde, auf der du lebst.
Schau, kleines Mädchen, ich habe mich dir zu erkennen gegeben, weil ich weiß, dass du meine Sprache verstehen kannst - die Sprache des Lebens. Du bist noch offen dafür. Neugierig, fragend, furchtlos und unvoreingenommen gegen alles, was du noch nicht kennst. Du willst dir immer erst selbst ein Bild machen,glaubst nicht, was andere sagen, sondern begibst dich zu den Dingen. Du wirst einmal Großes bewegen können und vielleicht schaffe ich es bis dahin zu überleben. Oder du beginnst schon jetzt im Kleinen damit, indem du den Stein wieder zurücklegst und dem Natürlichen überlässt.
Nora legte den Stein zurück. Vorsichtig, damit sie ihn ja nicht zerbreche. Da riefen ihre Eltern nach ihr und kamen auch schon näher. Leb wohl, kleines Mädchen.
Warte,sagte Nora. Ich würde dich gerne besuchen kommen. Morgen vielleicht?
Ich bin immer bei dir, Nora, gab die Schildkröte zurück...Das hast du doch verstanden, nicht? Ich bin auch du...wir sind Eins. Solange es das Leben gibt und nun geh...deine Eltern warten. Ich geh mit dir...sei gut zu dir, zu anderen...dann bist du es auch zu mir. Es war Zeit, dass ich mich dir einmal zeige.
Lotta Blau, 2020
Bild:free