Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden



Narzissen vor die Tür



"Ich hab ihn gesehen", sagte Herr L. Gegen einundzwanzig Uhr, als es dunkel war, ging er aus dem Haus. Ich muss es wissen, ich wohne unter ihm." Dann legte er auf, erhob sich vom Sofa und ging in die Küche. Einen Kaffee aufbrühen. Noch per Hand. Das Wasser war in der Stadt zu verkalkt. Alle Kaffeemaschinen gingen ihm schon kaputt. Ihm machte das aber nichts. Per Hand schmeckte es sowieso viel besser. Dazu noch ein Stück Kirschkuchen. Aufgetaut aus dem Froster. Lieber war ihm ein frisches Kuchenstück vom Bäcker, aber man durfte ja das Haus nicht mehr verlassen. Vorgestern hatte man einen verhaftet, der sich was zu essen in der Pizzeria holen wollte. Er gab an von nichts etwas zu wissen. Hätte weder Radio noch Fernsehen und Geld für Zeitungen wollte er von seinem spärlichen Einkommen der Sozialhilfe nicht ausgeben. Er hatte versucht das ehrlich und glaubhaft darzustellen, doch man glaubte ihm das nicht und nahm ihn mit. Hartnäckig blieb er bei seiner Aussage und betonte auch in Zukunft keinerlei neue Anschaffung zu tätigen. Er lebe ganz gut so, sagte er. Außerdem würden heutzutage all diese Verrückten ihre ebenso verrückten Weltansichten auf diese Art und Weise unter die Leute bringen. Ich will aber Ruhe, sagte Herr M. Fernsehen, Radio, Zeitungen...was brächten sie denn außer Unruhe und Zwist. Es wäre ihm zu anstrengend und dafür sei das Leben nicht da. Nach drei Stunden ließ man ihn gehen. Allerdings mit einer Geldstrafe von Fünfhundert Euro. Das Geld hätte er aber nicht. Das sei sein Problem. Käme es noch einmal vor, dann müsste man ihn einsperren. Auf dem Rückweg überlegte er, wie es anzustellen wäre ohne Neuanschaffungen von Geräten an Informationen zu kommen und fand keine Lösung. Es war ja auch nicht gestattet mal eben an der Nachbartür zu schellen, um nachzufragen, was es tagtäglich für neue Anordnungen und Androhungen gab. Und dann wäre er ja auch wieder im Stadium des Mitwissens. Wäre ja doch im Sog. So beschloß er sich daheim mit den Resten von Nahrung einzuschließen, bis er vom Fenster aus wieder Menschen draußen auf den Straßen sah. Irgendwann waren aber die wenigen essbaren Kleinigkeiten aufgezehrt und er begann zu hungern. Und irgendwann nach vielen Monaten brach er zusammen und starb. Er verweste in seiner Wohnung, denn es war kein Ende des Unnormalen in Sicht. Das Unnormale, das Krankhafte war Realität und wurde zur Normalität ausgerufen.
Eine tragische Geschichte, schrieb man später. Sehr viel später. Wie es nur so weit kommen konnte. Und warum es noch immer Menschen gäbe, die sich weigerten sich anzupassen. Leserkommentare überschlugen sich. Man hätte ihn direkt eingesperrt sein lassen müssen. Andere schrieben, dass man ihn doch in eines der bewachten Unterkünfte für alle Verweigerer der neuen Normalität bringen hätte müssen. Manche hatten Mitgefühl. Aber es waren Wenige. Viele schrieben, es wäre doch Solidarität Selbstgefährder aus dem Verkehr zu ziehen. Ja, manche bezeichneten ihn als puren Egoisten, da er sich herausnahm zu leben, wie er leben wollte. Ja, Herr L. hatte davon auch gehört. Er hatte selbstverständlich alle Geräte daheim. Außerdem war das Leben ja nun mal nur noch in den Medien und seiner Wohnung. Daneben war ja nichts mehr. Er fand man hatte sich dem zu fügen. Es gehöre sich so. Solche Menschen, wie dieser Herr M. waren ihm ein Graus. Und solche, wie sein Nachbar sowieso. Es machte ihm Angst, dass andere anders dachten. Das sie widerspenstig waren und er fühlte sich dadurch gefährdet. Man wisse doch nicht, was man sich draußen einfangen könnte. Das Leben sei nur noch sicher, wenn man es drinnen lebte. Er fand das richtig. Umso mehr hoffte er, man würde sich schnellstens um seinen Nachbarn kümmern.
Circa eine Stunde später hörte er laute Geräusche im Treppenhaus. Er schaute durchs Schlüsselloch und sah wie sein Nachbar abgeführt wurde. In Handschellen. Er ging ins Wohnzimmer und blickte nach unten, zur Straße. Sah, wie sie ihn in ein Auto setzten und abfuhren. Eine Woche später wurde seine Wohnung geräumt. Sie unterhielten sich im Treppenhaus. Er käme nie wieder raus, sagten sie. Gut, dass sie diese Unterbringungen eingerichtet hätten. Hätte sich gelohnt. Es wären so viele dort. Das hätte man auch nie für möglich gehalten. So viel Widerstand gegen die Staatsgewalt. Allerdings sammelte man dort mittlerweile auch andere Delikte, wie man es ausdrückte. Zum Beispiel, sagte der eine, hatte man letzte Woche einen Pfarrer eingeliefert, der darauf bestand seine Predigten in der Kirche zu halten. So, wie es in der Vergangenheit alltäglich war. Auf die Frage, warum er dem Staat nicht vertraue, sagte er, er vertraue nur auf Gott. Sonst niemandem. Darum bekam er zwei Jahre im Lager und galt noch als eher milder Fall. Immer mehr landeten dort und niemand konnte das mehr kontrollieren. Es geriet außer Kontrolle. Immer mehr Menschen verschwanden. Waren sie noch im Lager, so waren sie plötzlich weg. Die Zelle wieder frei. Niemand wusste, was mit ihnen geschah. Hatten sie noch Angehörige, so bekamen diese einen behördlichen Brief in dem von einer angeblichen Entlassung gesprochen wurde. Doch die Entlassenen kehrten nie heim.
Herr L. fand, jetzt hätte er genug sich mit solchen anstrengenden Dingen zu befassen und legte sich wieder auf seine Couch. Machte den Fernseher an und sah die neuesten Ansprachen der Regierung. Man müsse das nur noch ein paar Jahre durchhalten, sagten sie. Man solle vertrauen und gehorchen. Zum Dankeschön gäbe es nächste Woche zum Frühlingsbeginn für jeden Haushalt einen Narzissenstrauß vor die Tür gestellt. Mitarbeiter des Ministeriums für Sonderberechtigte würden diese verteilen. Nur solle man darauf achten seine Maske aufzusetzen, wenn man daran riecht. Es könnten sonst Keime in die Menschen gelangen und dann müsste man wieder alles von vorn beginnen. Nun aber war man Dank der Vernünftigen und all der Solidarität auf einem gutem Weg.

Lotta Blau, 2021