Abgelegte Zungen und innere Koffer
Was hat denn jeder in seine Koffer gepackt. Welche Rahmen, welchen Bernstein, der vielleicht noch aus phosphornen Kriegstagen stammt, welches Kerzenlicht oder welche zärtlich, wilde Nacht, welches Lied und welche Namen? In der Düsseldorfer Bahn sitzen sie mit ihren inneren Gepäckstücken. Andere bleiben beharrlich mit angstvollen Blicken stehen. Ihre Augen huschen herum, als wären sie in einem Gehege und zur Jagd vorgeführt. Als würde man ihnen gleich ans Leben und in ihre Koffer greifen und sie berauben. Manchmal war mir der Lärm zu viel, als viele noch meinten sie wären allein in der Bahn. Nun legt man die Zungen zuvor daheim fein säuberlich auf die Kommode, bis man wieder daheim ist. Wenn sie wieder benutzt werden, dann muss zunächst einmal deren Zustand gesehen werden. Manche sind an Vereinsamung krank geworden oder sogar gestorben. Andere kennen das regelmäßige Kriechen in einen anderen Mund, vom Partner. Ihre Zungenflora ist jetzt angegriffen, denn ihnen fehlt die warm-feuchte Mundhöhle des anderen. Diese Knospen auf dem Fleisch des anderen. Diese Gaumenblitze, die sich gegenseitig umschlingen.
Wie sie uns töten, diese Tage. Stück für Stück morden sie auf die unterschiedlichste Weise. Mal drangsalieren sie die gepackten Koffer in uns. Mal frieren sie die archivierten Worte ein oder sie ersticken die Schritte, die friedvollen und gewünschten. Stimmt es, dass zerstörte Wunschbilder immer wiedergeboren werden? Es muss einfach so sein, denn was sollte uns sonst weiter antreiben, etwas zu wollen, was immer wieder zerschlagen wird. Warum setzen wir denn sonst immer wieder das kaputte Mosaik zusammen, wenn nicht darum unaufhörlich dieses innere Flehen zu spüren? Wir sind selbst diese Mosaikfiguren. Ganz Bleibende, Musenhafte, Schönheitshörige und doch zackig, scharfkantige Teile. Zusammen fügt das der Kleber des Lebens mit all seinen Sekunden der Geschehnisse. Leben wir also den Tod? Das millionenfache Zellsterben in uns, wir tragen den Tod fortlaufen ins uns, das Töten, das Zerstören, das sich in die innerste Wiedergeburt, das innerste, tiefste und Verborgenste übergibt. Und stetig langsamer wird. Bis irgendwann Stillstand kommt und sich der letzte Atem aus den Gefäßen hinauf saugt. Zum Kopf, aus dem Mund über die Zunge überatmet. Ist es nicht diese Aufgabe, die uns ein Leben lang begleitet, Vertrauen darin zu fassen. Wenn der Sturz des Schmerzes kommt, wenn das Mosaikgebäude mit dem Atem verweht. Diese Kriege in uns. Patriarchen, die das Blut in uns zärtlich lecken, und sich vor dem Gewissen fürchten.
Des anderen Schmerz sucht die Dunkelkammer und sortiert deren Leben in den eigenen Bildern. Dann nimmt er sie heraus und hängt sie demonstrativ auf eine imaginäre Leine. Sticht mit Nadeln in die Versäumnisse, in den Streit, in das Hoffen, in die Verbundenheit oder was er auch immer gefunden haben sollte, mit Vehemenz ein. Zerteilt und heilt doch beinah diabolisch. Denn Schmerz will ja teuflisch sein in uns, damit er die Liebe herausfordert. Er braucht die Tür dazu und versucht sich hindurch zu schlängeln. Stattdessen die Liebe in die Falle zu locken und in seine Dunkelkammer zu sperren. Wer weiß, wann sie es wieder schafft sich zu befreien und den Schmerz bezwingt. Derweil schüttet das Diabolische schwarzes, schweres Öl darüber. Es klebt, erstickt und lacht sich dabei über die Befreiungsversuche selbst beinah tot. Das Herz bleibt imaginär stehen, weil der Schmerz darüber hockt. Er hat die Oberhand in dieser Ambivalenz von Leben, Liebe und Tod. Kriegsgelüste schnappen sich dabei die besten Happen und speien sie vergiftend wieder aus.
Wenn jemand stirbt, den man geliebt hat, dann bekommt nicht nur er oder sie ein Grab, sondern auch die, die noch bleiben. Der Schmerz buddelt es mitten in das Dimensionale des Seins. Mitten in die Zentrale. Es kann gelingen einen Wundenbaum hineinzusetzen, statt des ewig offenen Loches. Der wird blühen und dann seine Früchte in Jahreszeiten des Blutes abgeben. Je nachdem. Zu wenig gesehen, zu wenig gelacht, zu wenig umarmt, zu wenig gesprochen oder aber Ströme samt ihren Strudeln der schönen, liebvollen Momente schockwellenartig durch die Gezeiten sät. Ihre Kerne blockieren oder schwimmen mit der eigenen tickenden Zellzeit in uns. Wird es frostig, oder sonnig.
Im tiefsten Schmerz ist wie in tiefster Liebe. Es macht regungslos, verharrend, es macht einen Still-Atem, als wäre auch das noch zu viel. Frisch getroffene Gefühlsherzen wollen meistens ihre herrlich, warmen Bettdecken den ganzen Tag nicht verlassen. Als hätte man Angst etwas in Bewegung zu setzen, was Veränderung bedeutet. Die Körper berauschend in die Zeitlosigkeit versenkt bleiben die Uhren unwichtig. Wenn es nicht Tag und Nacht gäbe, hell und dunkel. Liebe sei Arbeit, wird immer gesagt. Schmerz ebenso. Dabei ist das eine, wie das andere ein Bewußtseins-Gerüst samt Lehraufbau. Es lebt und stirbt sich in uns da Leben und das Sterben.
Ich sehe die Kanadagänse auf dem noch überschwemmten Wiesen der Urdenbacher Kämpe landen. Kurz vor der Dunkelheit, meine Zunge daheim abgelegt, beobachte ich sie. Ich will sie fotografieren und scheitere daran, weil in diesem Moment meine Kamera schweigt, wie meine Zunge, als ob sie sich heimlich verbunden und abgesprochen hätten. Meine Pappelallee am Rheinufer hat es schwer getroffen. Das Hochwasser hat sie förmlich zerpflückt. Ebenso wie einige alte Weiden. Sie liegen in Teilen auf dem Boden. Ihre ausgehöhlten Körper mit Schlamm und angeschwemmten Grasbüscheln, die sich ineinander verfilzt haben, zur Hälfte gefüllt. An Stachdrähten haben sich Gebilde geformt, die ihn umschlingen. Manche Drähte haben sich in Baumrinden gebohrt. Die vermeintlich Stummen verwundet. Es scheint, es ist alles ein wundes Gemälde, das seine Farben verliert. Die Farbmischungen laufen die Straßen und Wege entlang und verschütten sich in den Abflüssen. Kleckern die Kanäle hinunter in die Kläranlagen. Wie lange wird es wohl dauern, bis sie wieder Tageslicht finden?
Bilder und Text Lotta Blau, 2021