Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Was wählen wir?

Die Ringeltauben zanken sich ums Futter. Jemand hat ihnen Körner hingeworfen. Sie bedrohen sich. Breiten einen ihrer Flügel aus und tun so, als ob sie den anderen mit ihrem Schnabel hacken würden, doch nie tun sie das wirklich. Es ist immer nur ein Bedrohen. Selbst im Kampf um das Überleben bleiben sie friedliche Geschöpfe. Vielleicht wären sie, statt des Storches, der geeignetere Vogel, um über eine Geburt eines weiteren Erdenkindes zu fabulieren. Schließlich sind sie das Symbol für Frieden und Friedfertigkeit überhaupt.

Einmal, da wird es schon werden. Einmal kommt schon das ganze Glück. Leben rechnet sich schließlich rückwärts ab. Am Ende denkt jeder zurück. Zurück in die Vergangenheit. Und dann? Hätte man doch, wäre man doch, man hätte ja können... Das geschieht sowieso auch in den noch saftigen, kraftvollen Jahren. Die Jahre sitzen hinter einem Fliegengitter und betrachten die Insekten durch das Netz. Die Fliegen bleiben frei und draußen. Die Gedanken scheuen sich, als wäre die Freiheit ein Laster, etwas Lästiges, Störendes, wie die Fliegen. Beschützt sperren sie sich selbst ein.

Gittermormonen, die sich ihre eigene Welt im Zeitrausch erschaffen haben. Streng limitiert jedes Ausweichen, jeder Versuch...die Angst zeichnet die Schatten des Gitters in die Köpfe, während das Herz genügend damit zu tun hat die Balance zu halten. Irgendwann wird es besser. Täglich wiederholen sie diese Gedanken in sich und lassen sie durch sich rauschen, wie einen Bach, der alle Tothölzer des Unglücks seiner vergangenen Tage an die Ufer schwemmte. Die Erde an ihren Händen quoll zwischen den Fingern durch. Dann brach der Ast, an dem sie sich festhielten und schoben sie zurück in den Fluss, aus dem sie gekommen waren. Gedankenfluss voller mächtiger Strudel, auffordernd in die Tiefe zu folgen, zum Grund. Es ist noch nicht zu Ende. Es wird nie vorbei sein. Wir er-leben uns, wir er-finden uns, wir er-sterben uns. Wir er- frieren uns, wir zerschmettern und wir setzen uns wieder zusammen. So gut es eben geht. Aber er-lieben wir uns auch?

Sie folgte dem Fluss, sitzend auf einer Treppe. Die Treppe am alten Trafoturm ist besiedelt von Moosen. Der Wind brachte sie hin, um zu bleiben. Staub verfing sich in ihnen und formte Verwehungen herum. Flechten bilden bizarre Gebilde. Auf dem Feld gegenüber haben sich Möwen niedergelassen, um von der Saat, die der Bauer gerade in den Boden bringt, etwas zu ergattern. Sie sehen von Weitem aus, wie schneeweiße Farbkleckse auf braunen Untergrund. Es ist recht ruhig und nur wenige Menschen gehen oder fahren mit dem Rad den Weg am Deich entlang. Früher stand ein paar Meter vom Trafoturm ein alter Kastanienbaum. Heute sind seine Reste zu einem Kunstgebilde umgestaltet. Fremd mutet es an und die geschnitzte Figur hat das Fleisch des Baumes zu etwas geformt, was nicht wirklich zu ihm passen will. Der Tod der Kastanie umgeformt zum scheinbaren Leben. Mit guten Absichten natürlich und doch drängt es jedes Mal eine Wehmut über den Weg und einen Nadelstich durch die Wunde. Diese Wunden überall. Mensch-Wunden, Tier-Wunden, Pflanzen-Wunden...Wolken-Wunden, Zeit-Wunden.Alles scheint Wunde zu sein. Worte kratzen ins Fleisch. Es klappt sich auseinander, das Fleisch. Es stöhnt und ächzt und legt alles Unsägliche, was jeder schon ertragen musste, frei. Vulkane sprudeln aus dem Fleisch, speien die Klagen hinaus, bis sie erkalten und die Asche durch die Adern braust. Dort lagert sie sich ab und bleibt Dünger für die einsamen Stunden. So lange, bis ein Gegenüber verstehen beginnt. Es braucht den anderen Verstehenden all dieser Wunden. Leben ist Wunde. Wollen wir denn leben? Wollen wir denn wirklich leben? Oder tun wir nur so. Leben irgendwie dahin, erfüllen unser Soll und setzen uns irgendwann auf die Bahre, bis wir umkippen und darauf sterben? Von Außen altern wir, aber von Innen...von Innen? Einen Tag zuvor: der Park mit seinen Rosen, angegliedert am Stadtmuseum Düsseldorf, macht einen wilden, schönen Eindruck. Es wirkt alles so zerbrechlich, irgendwie. Als wenn alles sagen würde: Gleich zerfallen wir ganz. Du hast gerade noch Glück gehabt uns zu sehen. Skulpturen, Rosenbeete, der Boden, die Bäume, die bewachsenen Mauern. Die Hand aus Stein, die eine weiße Rose hält. Und die zu einer Skulptur gehört, die an den Beinen bricht. Ihr kommt es so vor, als wäre das Leben für die Kriege da. Vor allem für die Kriege in uns. Ständig bekriegen wir uns ...indem wir uns betrügen. Selbstbetrug pulsiert durch uns, wie Soldaten in einer Schlacht. Die ständig das Gewissen gefangen nehmen und es foltern. Ihre Gewehre sind gestopft, so wie unsere Adern voller Zweifelklumpen und Asche der Versuche sind.

Wer einen Krieg begeht, begeht ihn für die Ewigkeit. Jeden Tag, jede Nacht wird wieder und wieder bei einigen Menschen Gefallen und bei den anderen Abscheu und Ekel hervorgerufen. Ein Krieg zertrümmert nicht nur Häuser, sondern zerschellt Hoffnungen.Es zerbricht und zerschellt die Sinne. Es gibt kein Vergessen...niemals. Bloß die, die sich das einredeten, die das wollten, die auf all die Leichen in den Kellern darauf jeglichen Wiederaufbau mit dicken, schweren Ziegelsteinen setzten...die taten so, als wäre nie was Böses geschehen, sondern als ob jegliches entsetzlich Narrenhafte eine Berechtigung hätte. Die Kriege sind so allgegenwärtig geworden, als wären sie normal. Wenn der Nächste brüllt: Legt an!, um dann ins Herz des vermeintlichen Feindes zu treffen, wer tut es dann ohne Gewissen? Ohne Scham, ohne Mitgefühl, ohne vorher die eigenen inneren Soldaten zu fragen? Die Köpfe im Angstrausch vor den Feinden sind zu einer Maschine in einer Fabrik geworden. Fleißig geölt durch brüllende Generäle, die ihre Befehle in die Maschinen brüllen und sie singen lassen. Singen blockiert die Angst vorm Töten. Sie werden bald neue Schlachtfelder suchen müssen, denn autonome Kriegsmaschinen nehmen längst Kurs ins Eigenmächtige. Programmierte Zahlenreihen ersetzen Gleichschritte und Stahlhelme. Wenn eine Codierung gehackt wird oder im linearen Zahlensystem ein Fehler entsteht, dann kann der Freund den Freund angreifen gar vernichten. Sie werden dann sagen, es täte ihnen leid, aber die autonome Schlacht wäre fehlprogrammiert gewesen. Dann legen sie wieder Kränze und bedauern jedes Jahr, wie automatische Kalender. Das ganze Jahr über tüftelt man an noch effektiveren Waffen, füllt die Labore mit tödlichsten Mikroleben, testet man Gehorsam und wartet gierig auf die Nachrichten der Börsen. Und dann, einmal im Jahr, geht man mit Trauermine zu den Mahnmalen oder Gedenkstätten und zieht die Schleife am Kranz der Ermordeten gerade. Soll ja keine Falte zu sehen sein. Das würde ja einen Aufschrei geben. Aber wo bleibt das Aufschreien all der Falten in den Versprechungen? All der einstigen Papiere, all der einstigen Worte zum Frieden, zur Gleichheit, zur Gerechtigkeit und der Würde? Wo bleibt die Demut vor dem Schuftenden, der Tag für Tag für einen Hungerlohn seine Kinder ernähren muss? Wo bleibt Demut vor den Trümmerkindern, die heute die Alten sind?

Letztens noch, als sie vom Grab der Rose Ausländer kam, als sie wieder zwischen den verwitterten Gräbern der Ermordeten in den Konzentrationslagern ging, suchte ein alter Mann im anderen Teil des Friedhofes das Gespräch mit ihr. Zwischen Engelsfiguren, verwitterten Skulpturen und gerade geschnittenen Gräberhecken. Die Sonne schien auf Spinnennetze zwischen Grabsteinen und Figuren. Leben, Tod und das sich Entziehende, das Rätselhafte, welches die Wissenschaft krampfhaft zu enträtseln sucht, ballte sich in Momente der Ahnung. Die Menschen kamen von allein, um ihr Leben zu erzählen. Ursprünglich aus Polen sei er, seit den sechziger Jahren in Deutschland lebend, hätte er ein sehr seltsames Verhältnis zu Polen. Kennen Sie Breslau?, sagte er. Geologie und Biologie hätte er damals gerade studiert und von jetzt auf gleich sei alles hinfällig gewesen. Er hätte in seinen Vorfahren Slawen, sagte man ihm. Der alte Mann redete durcheinander. Es war schwer ihm zu folgen. Er redete und redete, als wäre er sich sicher, gleich würde er sterben und es sei bei ihr behütet, zu wissen, wie sein Leben war. Seine Frau war längst weiter gegangen. Irgendwann, völlig in seiner Vergangenheit gefangen, merkte er, dass sie längst weg war, verabschiedete sich und folgte ihr. Wie so oft, wollte sie Fragen stellen und wie so oft kam sie nicht dazu, denn der Fluss trat hervor. Endlich durfte er einmal erzählen, endlich hörte jemand zu. Diesen Fluss wollte sie nicht unterbrechen. Nicht stauen...er war ja offensichtlich schon Jahrzehnte gestaut und brach nun alle Dämme.

Scheitern ist ein Schandmaul in uns. Es wird als schlecht und schwach angesehen. Das Schandmaul versucht niederzudrücken. Jagt den Aufstand in uns. Propagiert das Schlechte. Die Scham darüber am Boden zu liegen quetscht das Selbstbewusstsein aus, wie eine Tube Zahnpasta. Aber es gibt doch so viele Arten zu scheitern, wie Glücks- und Liebesarten gibt. Es gibt das Scheitern in Tuben. Und dann gibt es das Scheitern der Glaubhaftigkeit. Das immer und immer Wiederholende.

Sind wir denn wiederholt Gescheiterte? Sind wir denn leere Losnummern geworden, die Nieten gezogen haben. Diese Papierröllchen mit der Hand gewählt? Im Kopf die schönen Vorstellungen eines Gewinnes? Als wäre dieser Lostopf ein Jahrmarktschreier, der alles Gute verspricht, von Glücksträumen erzählt und Versprechungen herrliche Bilder malen lässt? Werden wir denn statt Gescheiterte irgendwann Gescheite? Endlich die Lose selbst beschriften, statt ins Leere zu greifen. In die Lügen und Täuschungen, in Versprechen ohne Boden? „Es wird niemals...es ist ausgeschlossen, ich verspreche, ich schwöre...“

Bild und Text Lotta Blau, 06/2021