Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Die Strafe

Herr Mantelschein ging über die Straße, dabei machte er einen Fehler, er sah nicht nach links und rechts, wie man es schon den Kindern beibringt. Er war so in Gedanken versunken, das seine und der anderen Sicherheit ihm nicht mal im Traum einfielen. Sekunden, die über sein weiteres Leben entscheiden sollten. Ständig dachte er daran. Seine Umgebung war verblichen. Sein Kopf glich einer Wattewelt, die sich immer mehr anfühlte, wie aufgedunsene Wolken. Wie konnte das nur geschehen? Warum hatte er es nicht bemerkt?

Er empfand sich als eigentlich ehrlich und umgänglich. Seit Monaten allerdings erkannte er sich selbst nicht mehr. Er war in seinen Augen zu einem Menschen geworden, der genau das Gegenteil zu sein schien. Er log, er stellte an sich selbst oft eine gewisse Aggression fest, aber irgendwie konnte er dagegen nichts tun. Ein seltsames Eigenleben bildete sich in ihm und irgendwie gefiel es ihm sogar. Endlich zollte man ihm Respekt und Anerkennung. Endlich konnte er nein sagen und endlich waren ihm die Reaktionen egal. Jeden Tag forderte er geradezu die anderen dazu auf, ihn dafür immer mehr und mehr zu verachten. Es waren anfangs nur kleine Lügen, manchmal aus der Not heraus und manchmal auch weil es ihm gefiel. Es stärkte ihn zu lügen. Lehnte er einst Widrigkeiten ab, so freute er sich heute darüber ihnen zuzustimmen. Etwa andere zu bezichtigen zu betrügen. So behauptete er aus heiterem Himmel und weil es ihm gerade danach war, dass sein bester Freund seine Frau betrügen würde. Da saß er gerade bei ihnen gemütlich am Tisch und eine Sekunde vorher stießen sie noch auf die schon so lange dauernde ehrliche Freundschaft an. Natürlich war der Abend gelaufen. Mantelschein genoss es, wie das Paar aufeinander losging. Genoss den Streit, sog die ganzen plötzlich auftauchenden Vorwürfe ein. Begebenheiten, die schon Jahre alt waren, dann irgendwo unterm Teppich verschwanden über den man täglich schritt. Die Illusion man könne Staub entfernen hat wohl nie die Menschheit verlassen, dabei verschiebt man ihn nur. Immer und immer wieder.

Mantelschein blieb während des Streits seelenruhig auf seinem Platz und trank seinen Wein weiter. Als das Glas leer war, goss er nach, während sich das Paar weiter an die Gurgel ging. Irgendwann bemerkten sie in ihrer Rage, dass sie vor ihrem Freund stritten, gingen ins Schlafzimmer und setzten ihre Vorwürfe fort. Mantelschein wurde es nun zu langweilig. Er trank noch aus und machte sich dann, ohne sich zu verabschieden, auf den Heimweg.

Unterwegs überkam ihn keinerlei Reue gelogen zu haben und damit verantwortlich für den Streit seiner Freunde zu sein. Ganz im Gegenteil. Er spürte Genugtuung. Die Welt war nun anders schön, für ihn. Seine ehemals gutmütige Ader schien die Seiten gewechselt zu haben. Dieses Gefühl erzeugte eine Art Macht in ihm und Größe und er begann schon darüber nachzusinnen, wie er noch mehr davon bekommen könnte. In seinem Kopf spielten sich Zukunftsdramen ab. Er spielte verschiedene Möglichkeiten durch. Überlegte wer ihn schon einmal verletzt hatte, dem er es nun heimzahlen könnte. Ein regelrechter Rausch und Schadensfreude überkam ihn. Am nächsten Tag hatte er sich gegen sechzehn Uhr mit einer Freundin im Volksgarten in Düsseldorf verabredet. An den Uhren sollte Treffpunkt sein und dann würden sie, wie üblich, durch die kleinen Gärten schlendern. Sich über Blumen und Bäume unterhalten und den dort seit Jahren anzutreffenden Kranich bewundern. Sie würde von ihrem Alltag erzählen, er von seinem, dann ab und an bisschen Neues aus der Kunstszene und der Literatur, sich irgendwann ins Café setzen und dann würde jeder wieder seines Weges gehen. Sie haben sich lange nicht mehr gesehen und einst war er sehr in sie verliebt. Aber sie sah ihn nur als guten Freund. Er tat so, als würde ihm das nichts ausmachen und litt doch recht lange unter diesem Zustand. Offenbar gelang ihm die Vertuschung sehr gut, denn sie schien nichts zu bemerken. Ganz im Gegenteil, sie erzählte ihm sogar, dass sie schon vor einiger Zeit jemanden kennengelernt hätte und schwärmte von ihm. Sie hätte mir auch gleich einen Dolch ins Herz stoßen können, dachte er sich und machte gute Miene zu diesem Spiel. Als er wieder daheim war, musste er weinen. Gott, stell dich nicht so an, dachte er und führte Selbstgespräche. Du bist ein Mann. Männer heulen doch nicht. Reiß dich zusammen. Es ist nur eine Frau, es ist nur eine Phase, es geht schon vorbei. Doch seine Tränen rollten und obwohl allein, schämte er sich dafür. Gleichzeitig dachte er, wie altmodisch und dumm das sei...Männer, das starke Geschlecht, legte sich auf sein Sofa und fühlte sich klein und unbedeutend. Litt und beschwor den nächsten Tag, dass es ihm besser gehen solle. Vergessen wollte er endlich. Es gibt doch nur noch wenig, was dieser Qual ähnlich sei. Wie eine Selbstkasteiung. Doch es blieb dabei und sein Leiden ging weiter. Ja, sogar so, das es Tage gab, da er nicht mehr weiter wusste und mit dem Gedanken spielte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er hielt es nicht mehr aus, das er ständig an sie denken musste. Das sie seine Gefühle in seinen Augen mit Füssen trat. Dieses unglückliche Sehnen, das sich nicht erfüllen konnte, schwebte Tag und Nacht über seinem Kopf. Es beherrschte alles. Ihr gegenüber aber hätte er nie gezeigt, wie es in ihm wirklich aussah und wie sehr er litt. Stattdessen tat er so, wie immer und spielte seine freundschaftliche Rolle. Eines Morgens, der Wecker klingelte sechs Uhr, kam er nicht aus dem Bett. Sein Kopf sagte aufstehen, aber sein Körper wollte nicht. Er war schwer, wie ein Stein und unbeweglich. Er blickte zur Decke auf ein loses Kabel. Dort sollte eigentlich eine Lampe hängen, doch das Haus war alt und die Decke bröckelte. Also beschloss er keine Lampe anzubringen, sondern stellte sich eine Stehlampe ins Zimmer. Einmal fiel im die Gardinenstange entgegen, als er am Abend die Vorhänge zuziehen wollte. Die Wände waren nicht wirklich tragfähig.

Gegen Mittag lag er immer noch im Bett und er blieb es bis zum nächsten Tag. Wieder konnte er sich nicht aufrappeln, wieder blieb er liegen. Dann rief seine Firma über Festnetz an. Es klingelte lange und er quälte sich ins Wohnzimmer. Was denn wäre und warum er fehlen würde. Wieso er nicht Bescheid gesagt hätte. Er log und sagte er hätte sich schlimm verletzt und wäre wohl bewusstlos gewesen. Am anderen Ende war man hörbar entsetzt und drückte sein Bedauern aus. Er solle sich ruhig mal ein paar Tage frei nehmen. Vielleicht sei es in den letzten Monaten einfach zu viel Stress gewesen. Immerhin hatte er ja hundertachtzig Überstunden angehäuft. Und er solle dringend zum Arzt gehen. Mantelschein beteuerte, dies würde er auf jeden Fall, bedankte sich und fühlte sich schon besser. Die Lüge hat mir gut getan, dachte er. Und bereute es keinesfalls gelogen zu haben. Es ging ihm ja wirklich nicht gut. Ach was, es ging im grottenschlecht. Wenn er doch nur endlich dieses Ölgefühl losbekäme, diese Schwere, die wie eine Kralle war und ihn umklammerte, ihn festhielt und nicht loslassen wollte, die immer mehr bestimmend wurde und vor allem, wenn er diese Liebe doch endlich aus sich heraus bekäme.

An jenem Abend, als er unachtsam die Straße überqueren wollte, wohlgemerkt, eine Hauptverkehrsstraße, nahe der Steinstraße, sah er seinen Freund. Jenen er bezichtigt hatte, seine Frau zu betrügen. Es schien ihm nicht gut zu gehen. Mit hängenden Schultern und eher langsamen Schritten ging er Richtung U-Bahn. Mantelschein sah ihm nach. Aber es regte sich kein Bedauern in ihm. Immer noch nicht. Dann sah er eine Frau. Es war nicht die Frau seines Freundes. Nein, es war jene Frau in die er so lange verliebt war. Sie ging auf seinen Freund zu, dieser blieb stehen und sie umarmten sich. Das brachte Mantelschein aus seinem Konzept, er blieb mitten auf der Straße stehen und beobachtet die Zwei. Er überlegte...aber nein,... nicht das wüsste er doch. Sie konnten sich nicht kennen. Hatte nie davon erfahren, dass sie sich jemals begegnet sein sollten. Sie hätte es doch sicherlich irgendwann erwähnt. Was ging da vor sich? Und dann...ja, dann küssten sie sich. Mantelschein bebte. Das konnte nicht sein, durfte nicht sein...das war doch...

Er wurde wütend, rasend vor Wut, denn schließlich hätte er davon wissen müssen. Er ging schnellen Schrittes über die Straße, um sie zur Rede zu stellen. Sein Blick war nur auf die beiden Liebenden gerichtet. Er schaut nicht nach links und nicht nach rechts. Einzig seine Wut lenkte ihn und dann passierte es. Er wurde von einem Auto erfasst, durch die Luft geschleudert und prallte auf dem Asphalt auf. Später stellte man bei dem Fahrer reichlich Alkohol im Blut fest und auch Mantelschein, der mit zwei Knochenbrüchen, einem Anriss der Milz und einer Gehirnerschütterung doch einige Zeit brauchte um sich zu erholen, bekam seine Strafe. Drei Meter weiter wäre eine Ampel gewesen. Man sprach auch ihn verkehrsrechtlich schuldig.

Seine Freundin und sein Freund besuchten ihn in der Klinik. Sie beichteten ihm ihre Beziehung und womit er nie gerechnet hatte, sie dankten ihm. Sie hatten sich schon gefragt, woher er das nur gewusst haben könnte, denn sie erzählten es niemanden. Aber, so sagten sie, dass er es so beiläufig an jenem Abend, wenn gleich auch ohne Namen, erwähnt habe, das hätte alles verändert. Es ging schon zwei Jahre so und das Schuldbewusstsein wuchs und wuchs. So folgte nach dem Riesenkrach an jenem Abend die Einsicht, dass es so nicht mehr weitergehen könne und es folgte nach dem Streit am nächsten Tag eine Aussprache im ruhigen Ton. Danach einigte man sich auf getrennte, aber friedliche Wege. Er sei dann zunächst zu ihr gezogen. Alles Weitere würde sich in der nächsten Zeit regeln und ergeben. Mantelschein glaubte nicht richtig zu hören. Er bat sie zu gehen.

Die folgenden Tage und Nächte, noch ans Bett gefesselt, grübelte er und grübelte. Er versuchte in sich irgendeine Erklärung zu finden, suchte Mitgefühl, suchte auch Reue oder Schuld. Suchte nach noch vorhandenen Liebesgefühlen für sie, doch es war alles wie ausgelöscht. Er fühlte sich auf unangenehme Weise leer, und doch seltsam freudig erlöst von dieser Liebe. Endlich.

Doch seine Logik hatte ihn im Stich gelassen.

Bild und Text Lotta Blau, 2021