Tage wie diese
Das Kaninchen im Schrank
Ich bin auf Reisen. Zwischenstopp. Es ist beinah Mitternacht und meine Blase drängt mich zu einer sanitären Anlage im Bahnhof. Ich will nicht sagen, welcher Bahnhof. Warum? Das erzähle ich nun. Als ich mir die Hände waschen wollte und der Wasserhahn nicht funktionierte, half mir eine junge Frau, die sich wohl auch den Körper waschen wollte. Sie hatte unregelmäßig kurz geschorenes, dunkelbraunes Haar. Neben ihr, auf dem Boden, lag ein kleines Bündel Kleidung. Ganz oben eine Perücke und ein Minirock. Ein Mann wischte gerade den Gang der Einrichtung. Sie unterhielten sich. Offenbar kannten sie sich. Diese junge Frau hatte ich vorher an einem Gepäckspind beobachtet, der sich gegenüber von der Toilette befand. Unter ihrer Jacke holte sie ein Kaninchen hervor und setzte es in den Spind. Sie tat noch etwas Futter dazu, ließ den Spind ein wenig auf, damit das Tier Luft bekommen konnte und ging zur sanitären Einrichtung, in der sie mir dann begegnete. Sie hatte ein liebes Gesicht, aber auch einen gequälten Ausdruck.
Vielleicht ist dieses Kaninchen ihr einziger Freund. Vielleicht ihr einziger Halt, dass sie jemand braucht, ganz ohne sie körperlich auszubeuten. Die Perücke nachts hatte es verraten. Vielleicht schlief sie mit dem Kaninchen im Arm irgendwo unter einer Brücke ein. Oder gab sich noch einen Schuss, um all ihr Elend zu vergessen. Das weiß ich nicht. Aber sie tat mir unendlich leid. Ich frage mich, was einen Menschen, dazu noch so jung, in dieses Elend getrieben hatte. Wie ich las, leben auch immer mehr Kinder in Deutschland auf der Straße. Im Berliner Bahnhof, dort war mein nächster Zwischenstopp, wurde man gebeten Bettlern nichts zu geben. Es sei verboten. Ich dachte mir, das entscheide noch immer ich selbst, ob ich was gebe! Ganz gleich wo ich bin. Wenn ich nur an all die Alten denke, deren Rente nicht reicht, die in den Abfalleimern nach Flaschen wühlen. Ich bin auch schon nach etwas zu essen gefragt worden und dann sind wir gemeinsam zum Pizzastand gegangen.
Man muss nur einmal versuchen gedanklich die Rollen zu tauschen und befände sich an der Stelle jener, die betteln. Jedes Mal käme dann ein Kopfschütteln oder ein NEIN. Ist schon klar, dass viele das Geld natürlich wieder für Drogen verwenden, darunter Alkohol. Wie lange könnte man auf der Straße leben, ohne sich betäuben zu wollen? Nichts mehr spüren von sozialer Kälte, dem Frost in der Nacht oder der Vergangenheit, die jene gebrochen hatte? Nicht zu vergessen, dass in den letzten Jahren auch immer wieder ältere Frauen wohnungslos werden.Und die obdachlosen Kinder? Was wird aus ihnen? Was wird aus der Frau mit dem Kaninchen?
Lotta Blau/2023
Bild:free