Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Es gibt kein Heute mehr

Es gibt kein Heute mehr. Heute hat sich aufgelöst. Es hat sich alles aufgelöst. Die vergangenen Jahre hat sich das Heute aufgesaugt. Hat sich mit all den Fragen und Antworten vergrößert, bevor es zu Bruchstücken wurde und dann zusammenfiel. Zusammenbruch seiner Form. Das Heute hat seine Gerüste abgeworfen, an denen wir uns festhielten. Umklammert haben wir seine Beine, wie ein kleines Kind, seine Mutter. Es war unsere Uhr, die wir tagtäglich an und aus stellten. Heute begann beim Aufstehen und Heute endete mit dem Schlaf. Es war immer da, das Heute. Undenkbar, das es einmal nicht mehr sein könnte. Und nun ist es doch verloren. Hat sich aufgemacht. Ist verschwunden. Heute hat keine Knochen mehr, kein Rückgrat, keinen Kopf und kein Herz. Heute hat keine Sprache mehr, keine Liebe, keine Träume und keine Wünsche. Heute ist, vermutet man, tot. Mindestens unterm Gerüst verschüttet oder mindestens sterbend. Aber das ist nur ein Trost. Wer das Heute sucht, der findet es nicht. Nur ein Sog blieb. Zwischen gestern, heute und morgen. Gestern war ja das und jenes...und dann beginnt auch schon alles zu wackeln. Heute...es kann keiner mehr das Heute benennen und morgen...morgen war ja immer schon ein Gedankengebäude. Was morgen ist...ja, was denn? Ahnungen, Träume, Wünsche...von heute zu morgen. Jetzt ist er versickert. Dieser Kreislauf. Das Heute hat eine Grube erschaffen, bevor es verschwand. Wer nicht aufpasst, fällt mit seinen Vorstellungen hinein. Früher war das Heute auch nicht gerade etwas sehr Bestimmtes. Aber nun ist es ausgelöscht, denn es hat den ständigen Veränderungen, die ihm aufgezwungen wurden, nicht standhalten können. Es hat uns abgeschüttelt von seinen Beinen. Sonst waren wir uns zumindest einigermaßen sicher: Heute liebe ich noch, heute geh ich da und dort hin, heute hab ich dies und jenes zu erledigen, heute muss ich das, oder heute muss ich nichts, heute ist egal, heute ist ja sowieso da...morgen geht ja auch noch. Immer diese Gerüste, die uns bücken oder strecken. Die uns hetzen oder faul sein lassen konnten. Heute scheint die Sonne, heute regnet es, heute schneit es. Heute küsse ich dich. Heute sage ich...heute sehe ich dich. Heute hungern, frieren, sterben, weinen Menschen. Heute schreien die Bomben: Es ist Krieg! Heute ...Trümmerkinder und die Leichenhände, die hervor schauen. Heute leiden Tiere. Heute...Heute dachte man immer, dass es morgen besser wird. Und morgen wurde wieder heute und dann wurde es gestern. Und jetzt ist es vorbei. Heute ist eine Metamorphose geworden. Gestern war seine Stimme noch zu hören. Seine Hilferufe. Und dann, nach all der Zeit, in der es existierte, hatte es genug vom ständigen Vertrösten, von all den Irrwegen, vom Schamlosen, vom Betrügen und Lügen. Sekündlich öffnete es die Bilder der Welt. Richtete die Zeiger der Uhr darauf...und tickte durch die Tage: Fünf vor Zwölf. Jeden Tag. Jedes Heute, tat es das. Doch immer wieder drückte man ihm die Lippen zu. Vertröstete es...auf morgen. Morgen wird alles besser, morgen hören die Hungersnöte auf, morgen werden alle satt, morgen hat jeder ein Dach über dem Kopf, morgen ...

Jetzt haben wir kein Gerüst mehr, keinen Halt. Wissen nicht, was kommt. Geistern umher. Versuchen uns an Restmimik, an Gestik oder an übriggebliebener schwammiger Sprache zu klammern. Wir entgleiten dabei, wie ein schlechter Fallschirmspringer und prallen auf ständige Änderungen auf. Heute ist eine Zählromantik geworden. Sie schleicht sich durch uns. Wir versuchen dieses Falsche abzuschütteln. Können es nicht glauben. Das kann doch nicht sein, denken wir. Das Heute muss neu erfunden werden, rufen wir panisch. Wir können nicht ohne. Heute muss doch sein. Wenn das alte Heute nicht auffindbar ist, dann muss eben ein neues her. Morgen.

Bild und Text Lotta Blau, 2021