Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

 



Diese Rosen

Vor längerer Zeit, ich war unterwegs in der kleinen Innenstadt Benrath in Düsseldorf, setzte ich mich bisschen in die Sonne auf eine Bank, als ein offenbar Obdachloser auf mich zukam. Er hielt eine Rose in der Hand und streckte sie mir hin. Bitte, sagte er. Ich sah ihn verdutzt an. Von wem ist die?, fragte ich ihn. Er lächelte und zuckte mit den Schultern. Ich soll Ihnen die geben, setzte er fort. Danke, sagte ich und sah mich um. Es waren viele Menschen an dem Tag unterwegs. Ich konnte niemanden erkennen, der vielleicht verstohlen und heimlich zu mir schaute. Ob er sich versteckt hatte? Ob er irgendwo in einer Ecke stand oder in einem Geschäft und mich durch ein Schaufenster beobachte? Es war ein seltsames Gefühl und doch freute ich mich. Bis heute blieb es ein Geheimnis. Ich trocknete die Rose und hab sie heute noch.

Nun war ich vor Kurzem in Ahlbeck. Immer schon mochte ich das Meer, ebenso, wie ich die Berge mag. Aber das Meer, das liegt mir doch noch ein wenig näher. Diese unendliche Weite, der Geruch und weiche Sand, der Klang und der Wind, die Wellen und die unterschiedlichen Möwen. Ich legte meinen Kopf auf dieses Bilderkissen, das mich in seinen ganz eigenen Traum mitnahm. Wann immer ich träume, schaffe ich die Uhren ab. Versenke die Zeiger mit dem Gewicht der Sorgen. Versuche es zumindest. Schließe den Briefkasten in mir und beginne den Verzicht. Diese ganz im Inneren sitzende Revolution. Langfristig wäre es das Einzige, welches dauerhaft Bestand haben könnte. Ich rede mir Frieden ein. Schäme mich beinah tot über all diese Kriegsköpfe in so vielen Ländern. Sehe sie durch die Jahrhunderte zurückgehen. Mal mit der Mistgabel in der Hand, mal Feuer legend, bis sie als Affe auf den Bäumen sitzen und schlussendlich als verschiedenste Mikrobestandteile im Meer enden. Tellerrandgeflüster. Wobei ich gerne am Rand stehe und beobachte. Immer aber schon. Mein Bauchnabel ist nicht der Mittelpunkt. Ich verstehe Dich gut, sagt der Verzicht in mir...dieses Fremdgefühl... so als lebe man irgendwie im Surrealen. Wie man es sehen will, denk ich mir. Vielleicht sind die Träume ja realer als die vermeintliche Realität, denn wer weiß schon, ob wir tatsächlich etwas wissen. Wir wollen uns die Welt erklären. Immer wieder treibt es uns dazu. Ob wir sie tatsächlich kennen, diese Realität. Die Einbildung bildet sich ein Bild. Eben...EIN-BILD.

Menschen suchen nach Erklärungen, um Halt zu finden. Der Mensch braucht dieses Gebilde, dieses Gerüst in sich, an dem er sich festhalten kann, sich von einer Seite zu anderen schwingen oder nach oben klettern kann. Doch wehe, wenn es zusammenbricht. Dann sag ich mir, lieber anders, lieber fremd, lieber raus aus der Masse hin zum Tellerrand. Manchmal schmerzt das...aber nur manchmal. Im Grunde ist es eine Notwendigkeit. Was wissen wir denn schon von dir, du Meer. Fünf Prozent, schätzt man. Wie viel waren es noch einmal beim menschlichen Gehirn? Das Meer ist immer noch nur zu einem Bruchteil "erforscht", ebenso wie das Hirn.

Das menschliche Denken ist auf "Bildung" im Kuschelkurs mit der Wirtschaft aus. Was jedoch "Bildung" dringend benötigt, das ist eine Gefühlswelt. Das ist Empathie und die Fähigkeiten dazu. Bewusstes Wahrnehmen im Rahmen der beschränkten Möglichkeiten - ohnehin. Jede Zelle hat ihren eigenen Verlauf. Jedes Lebewesen seine eigene Zeit. Allein darum kann es keine einheitliche Zeit geben. Das ist auch eine "Einbildung". Hinzu kommt der ständige Trieb etwas, was der Mensch nicht versteht, oder sichtbar sehen kann, als nicht vorhanden in Schubkästen zu stecken. Tragisch dabei, dass er sich damit eher weiter vom Wahrscheinlichen entfernt, statt ihm näher zu kommen .Natürlich, etwas was offiziell weder bestätigt, noch verneint wird, darf man ebenso wenig ablehnen, wie anderes, was nur vermutet werden kann. Die uralte Frage zum Beispiel: Gibt es Gott oder nicht, kann aus Beweis- oder Widerlegungsgründen weder bejaht noch verneint werden. So zumindest die logische Herangehensweise und damit die Aufhebung eines individuellen Urteils. Wenn man es ganz genau nehmen will, dann lebt der Mensch von Beginn an in einer selbst erschaffenen Scheinwelt, die nichts oder sehr wenig mit dem tatsächlichen Leben zu tun hat. Hinweise und Indizien dafür gibt es mehr als genug, die nur unserer überheblichen Ansicht als Krone der Schöpfung zu schulden sind. Natürlich mit einer langen Entwicklungsgeschichte seines Wesens.

Ich sehe das Meer vor mir, spüre es, rieche es und doch ...wer weiß von uns denn schon, ob es tatsächlich so aussieht, wie wir es uns mit unseren beschränkten Sinnen einbilden? Und weil wir uns so wenig bis heute mit all dem Leben um uns verbunden haben und uns in unserer Beschränktheit verbinden konnten, darum gingen wir eben diesen geistigen Fehlweg. Der heute immer häufiger im Virtuellen endet. Vorläufig zumindest. Statt dem Leben näher zu kommen, entfernten wir uns immer weiter und tun es immer rasanter.
Und auf diesen ganzen Trugschlüssen, das Leben könne nach unseren Vorstellungen geformt werden, formten sich auch die Möglichkeiten der Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen und zwar gerade heute im ekelhaftem Ausmaß.

Am späten Abend, es war bereits dunkel, ging ich barfuß von einem Ort zum nächsten. Von Ahlbeck nach Heringsdorf und dann nach Bansin. Am Meer entlang. Die Wellen wickelten sich um die Füße, die Lichter der Seebrücken spiegelten sich an den Rand. Der Schaum rollte über den Sand, plusterte  ihn vor sich her. Das Meer war warm, beinah zu warm schien es mir, während ich zum Schwimmen hineinging. Die Kraft der Wellen spielten mit meinem Körper. Auf und ab umspülte mich das Salzwasser. Ich tauchte meinen Kopf unter Wasser, hörte das Rauschen und all die Ertrunkenen im Mittelmeer kamen mir in den Sinn. Du Rosenbild...

Die Ertrunkenen singen für immer ihre Lieder, erzählen ihre Geschichten. Was wissen wir schon von ihnen, die mit ihrem Namen auf dem Meeresgrund hin-und her rollen. Keine Ruhe finden, sie hatten nie einen Abschied. Die Mutter, die ihr Kind sucht, ruft vom Meeresboden aus. Es kann nicht mehr antworten. Es liegt tot mit dem Gesicht nach unten am Strand. Immer wieder streift ein Windhauch zärtlich sein nasses Haar. Komm, singt der Wind, komm...steh doch auf.

Sieh nur, sagte das Meer...seht nur, was ich alles zu tragen habe. Es ist zu viel. Der Horizont scheint sich in arm und reich zu teilen. Das Kind, was hat es getan? Was haben diese Menschen getan? Und das Wasser erzählte und erzählte, als müsse es eine Schuld loswerden, weil es zu stürmisch war, an jenen Tagen und Nächten. Die Stimmen der Toten ziehen an unseren Fäden. Sie wandern mit dem Wind über jedes Land, über jedes Meer, über alle Berge und Täler bis in die Betten von uns allen. Sie flüstern uns in die Ohren in der Nacht und ruhen sich im Licht der Sterne aus. Versuchen ihre Gesichter zu zeigen.

Und dann, ich war tagsüber zur Heringsdorfer Seebrücke gegangen, fand ich eine Rose, die im Sand steckte. Ich erinnerte mich an die Rose von damals, die mir der Unbekannte schenkte. Das Wasser berührte ihre zarte Blüte, versuchte sie mit sich zu nehmen, versuchte es immer wieder. Es gelang nicht. Diese Blume, ohne Wurzeln, hielt sich dennoch fest. Wenn sich nur alles Lieben und Leben so festhalten könnte. Trotzig, sogar gegen den Sog der Finsternis. Es begann zu regnen und bald darauf erschien ein Regenbogen über dem Meer. Diese Brücke von Himmel und Meer. Als wenn der Regenbogen sagen würde: Nun kommt...kommt, all ihr Toten über mich hinauf und ihr Lebenden macht es endlich besser. Das Leben kann sich nämlich lohnen und den Lohn gibt es am Ende zum Anfang. Hört auf, ihr Toten, euch über den  Boden zu rollen, den Boden der Tatsachen aufzuwühlen oder gar noch immer dem besseren Leben nachzuweinen. Die politisch Passenden ward ihr nicht! Die Kinder fragten die Mütter und Väter: Wo gehen wir hin? Gibt es dort zu essen oder Spielzeug? Was ist mit Großmama? Wo ist sie?

Diese Rose im Sand...Ich legte meinen Kopf zurück auf das Bilderkissen. Die Sonne schien wieder und begann ein Lichtspiel über das Wasser. Wie mit einer riesigen Lichterkette deckte sie das Meer zu. Ein weiterer Brief war entstanden. Es war mir nicht gelungen die Uhren für diese Momente abzulegen. Den Briefkasten zu schließen. Diese Rosen...

Bilder und Text Lotta Blau,10/22