Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Jeder ist Mensch, keiner ist Gott

Es gibt da einen sehr klugen Mann. Ferdinand von Schirach, dessen Hauptthemen in seinen Büchern das Verstehen ist, wie jemand zum Verbrecher werden konnte. Was einen Menschen dazu bewog oder dazu auf Grund seiner Lebensgeschichte dazu brachte eine Tat auszuüben und auch, dass dieses in jedem Menschen schlummere. Ich sehe darin keine Entschuldigung oder Relativierung einer Tat, wohl aber einen Verweis darauf, dass jeder Mensch seine ganz eigene Geschichte hat. Und jeder Mensch ein Recht auf einen fairen Gerichtsprozess haben muss. Ansonsten wäre das Rechtssystem keines. Im Prozess gelten Fakten und doch kann auch dort die Moral durchaus einen Platz finden, vielleicht mit einem milderen Urteil. In Anbetracht jener Lebensgeschichte. Dennoch bleibt Gesetz auch Gesetz.

Ich stolpere immer wieder über den Satz in der Allgemeinheit: Du sollst nicht über andere urteilen. Einerseits finde ich das völlig richtig, andererseits urteilt jeder Mensch unmittelbar, auch unbewusst. Jeder Mensch trägt gewisse Muster in sich. Ob erworben oder aus der sekündlichen Betrachtung und Empfindung heraus. Das Urteilen ist eine große und grobporige Angelegenheit. Auch eine sehr vernetzte. Urteilt zuerst der Kopf oder das Herz? Wann urteilen wir zuerst mit dem Herzen und wann zuerst mit dem Kopf? Und wann vermengt sich beides, so dass wir uns vorerst nicht entscheiden können, wie wir letztendlich urteilen? Ist ein jahrelang Obdachloser, der aus Hunger gestohlen hat, genauso zu verurteilen, wie jemand, der nur "aus Kick" oder ähnlichen Motiven diese Tat beging? Und darf überhaupt ein hungernder Mensch in einer Überflussgesellschaft dafür bestraft werden? Sicherlich, das Gesetz sagt: ja! Um diese Frage zu beantworten bedarf es einen tieferen Blick, als das Aufschlagen eines Paragraphen, eines Absatzes oder der Suche nach Möglichkeiten für eine Verteidigung, inklusive Präzedenzfällen. Denn, wie schon gesagt: Unter der Oberfläche finden sich Gründe einer Tat.

Man muss sich daher fragen, warum gibt es überhaupt noch in einer Überflussgesellschaft eine derartige Armut , das sie Menschen dazu nötigt zu stehlen. Und dann ist man schnell bei anderen Fragen, die Fehlentwicklungen aufzeigen. Ungleichgewicht um Ungleichgewicht offenbart sich und damit die Frage: Wie kann das in einem eigentlich so gutem Rechtssystem und in einer fortschrittlichen Gesellschaft möglich sein? Warum wurde die Rechtsprechung nicht diesem Ungleichgewicht angepasst. Nicht der Politik, sondern der Fehlentwicklung innerhalb der Gesellschaft? Nun, zum Beispiel, warum ist Containern immer noch mit einer Strafe verbunden, während jedes Jahr tonnenweise Lebensmittel im Müll landen, warum wird nicht in entwickelte Schlafkabinen für Obdachlose oder mobile Duschen investiert, statt in Immobilienhaie. Warum wird ein Mensch, der kein Geld für ein Ticket hat, um von A nach B zu kommen, mit einer Geldstrafe belegt, statt sich seinen finanziellen Mitteln juristisch anzupassen und ihn somit straffrei zu halten? Das es zu einer  juristischen Reform einiger Paragraphen dazu gut möglich gewesen wäre, das zeigen uns ja andere Fälle, wie zum Beispiel das Gleichstellungsrecht. Allerdings die Umsetzung ist eine andere Sache. Theorie und Praxis, wenn man so will oder Papier ist geduldig. Und wie ich einmal schrieb: Alle Gesetze sind grau, damit noch genügend Schlupfmöglichkeiten zwischen schwarz und weiß möglich sind. So ja immer noch beim Mindestlohn, bei der Zeitarbeit oder vielen anderen Punkten.

Den Fortschritt einer Gesellschaft ermisst sich am Umgang mit den Schwächeren. Natürlich gehören dazu auch die Tiere und die Natur. Der Umgang mit Tieren ist auch ein ganz trauriges Beispiel dafür, wie sehr Theorie und Praxis auseinanderklaffen können. So haben wir ja ein Tierrecht, allerdings wird es in der Praxis kaum umgesetzt, ja immer wieder werden Verbesserungen ihrer Lebensumstände einfach um Jahre weiter weggeschoben. Thema zum Beispiel: Kastration der Ferkel ohne Betäubung, oder die Laborversuche an Tieren oder oder. Man darf heute davon ausgehen, dass jeder darüber informiert sein müsste. Aber die Lobby ist stark und die Hörigkeit und Abhängigkeit auch. Nur den "kleinen Bauern" darf nicht die alleinige Schuld gegeben werden, wenn überhaupt.

Möglich wäre vieles gewesen. Ich schrieb einmal: Wenn man bedenkt, was der Mensch für eine Chance hatte, eine friedliche und gerechte Welt zu zimmern... Was für eine Vorstellung! Balsam für restliche Träume, Utopien, Wünsche. All jenes, was uns Hoffnung gibt und uns irgendwie oben hält. Vor allem auch, unseren Geist kreativ werden lässt. Dazu gehört eben auch ein tatsächlich gerechter Wandel unser Selbst verflochten mit all dem, was eine fortschrittliche Gesellschaft ausmacht. Entscheidungsmöglichkeiten, individuelle Entwicklung, die erst ein empathisches Einbringen in die Gesellschaft möglich macht und somit eine Öffnung für all das, was verbessert werden könnte. Statt immer neue Technik zu erfinden, müsste sich der Mensch selbst entdecken und seine größte Erfindung sein. Das ist Leben, das ist lebendig. Nicht ungerechte Strafen, nicht Gegeneinander, nicht Jahrzehnte ausharren unter all dem Zwang zu funktionieren und zu gehorchen. Das Leben ist kein Register!


Bild: Sichtblockade, Lotta Blau, 2021

Nun, es mag banal klingen, aber was viele Menschen verlernt haben, ist das Staunen. Es ist eine Eigenschaft, die uns aus der Kindheit erhalten blieb. Sie schlummert in uns.  Staunen ist eine Freude. Zumeist. Es kann auch ein befremdliches Staunen sein. Aber geht man vom Staunen über eine Kleinigkeit aus, dann kann sich der ein oder andere vielleicht daran erinnern, wie er ganz unbeeinflusst und spontan in der Kindheit gestaunt hat. Wie eine kleine Befreiung war das, vom Zeit-und Raumgefühl, von Zwängen und all dem, was vielleicht bedrückt hat.

Wann hast du zuletzt so befreit und wohltuend gestaunt?

Momentan geht es wohl vielen Menschen so, dass sie das befremdliche Staunen direkt überspringen und sie spüren eher Hilflosigkeit, Fassungslosigkeit, Trauer und Wut. Tiefe schmerzhafte Risse ziehen sich durch die Gesellschaft. Vieles wird wieder aufgerissen und es tritt einiges zutage, was längst überwunden gedacht. So spart man nicht damit andere zu beschimpfen oder ihnen allerlei zu unterstellen, gar Schlimmes wünscht man heute nur allzu gerne. Alles natürlich, ohne den anderen Menschen jemals zu Gesicht bekommen zu haben, seine Geschichte zu kennen, sondern einzig auf einen Bruchfetzen gestützt wird sich angemaßt zu urteilen. Jedem dürfte mittlerweile auch aufgefallen sein, dass unser Rechtssystem nicht mehr das ist, was es einmal war. Eine immense Schieflage herrscht. Es wird bestraft, gegängelt oder angedroht. Es ist kein Geheimnis, dass vieles davon Unrecht ist, was heute auf Anordnung geschieht. Ja, selbst in den Tatbestand fällt.

Die Staatsgefüge in vielen Ländern sind eine finstere Schlucht geworden. Die Rechtssysteme unterjocht, nicht um eine positive Änderung zu vollenden, sondern um sie politisch zu vereinnahmen.

Und so, wie anfangs in meinem Text dahinter geblickt werden sollte, welch Geschichte jeder Mensch hat, so müssen wir uns heute die Geschichte der Staaten ins Gedächtnis rufen. Vor den Vorhängen spielt das Theater und hinter ihnen die Realität! Nun sollten wir die Staatsgefüge wie einen sehr kranken Patienten sehen. Er leidet an Größenwahn, an einem unrealistischen Selbstbildnis, einem krankmachenden Machtgefälle, an Selbstgeißelung, genauso, wie an einem angeknackstem Genick, das höchstwahrscheinlich dazu führen wird, dass es ein Land nicht mehr unter all den Bedingungen aus seinem Elend schaffen wird. Alles, was ihm unterkommt, frisst er auf und was ihm dienen kann, das poliert er blank.

Es bleibt die Frage, in welcher vermeintlichen Sicherheit wir uns all die Jahrzehnte wogen und wie wir Demokratie gesehen haben. Die doch ewig ein zerbrechliches und verletztes, ja verwundetes Etwas blieb. Demokratie ist auch eine Arbeit an uns selbst. Gerade sehen wir das. Wer setzt sich gegen die Spaltung ein, wem ist es egal oder wer macht gar mit. Wer befeuert sie...wer setzte sie in Gang und aus welchen Gründen? Wir leben in einem sterbendem Gefüge. Es ist nicht mehr aufzuhalten, es ist wohl auch nicht mehr gewollt. Vermutlich soll es zusammenbrechen, um einen Nachfolger zu kreieren, der offensichtlich keinen Platz mehr für Selbstbestimmung und Würde eines jeden Menschen innehält. Schon jetzt schwimmen wir in einem Sog der Unmenschlichkeit, allem voran den Kindern, Alten und Schwachen gegenüber.

Der Mensch taumelt durch das Leben. Durch sein Leben. Ist sehr damit beschäftigt seinen Alltag zu vollbringen, muss funktionieren, muss erfüllen, glaubt es jedenfalls. Es lenkt ihn ab, sich mit seinem Umfeld zu beschäftigen. Jeder Mensch hat ein "Zeitkonto", welches sich rückwärts abrechnet. Nicht Geld ist am wertvollsten, sondern das Ticken der Zellen in uns.

In welcher Parallelwelt also haben wir alle nun Jahr um Jahr gelebt? Haben uns ins Sicherheit gewogen, obwohl es seit Beginn der Zivilisation kaum ein paar zusammenhängende Jahre ohne irgendeinen Krieg auf der Welt gab. Man hört ja hier auch keine Bomben fallen, die in anderen Ländern aufschlagen. Die Regale in den Geschäften waren immer schön voll. Aber es gab tausende Hinweise, dass es keine Sicherheit gibt. Nirgends und nie. Ein Staat, eine Gesellschaft ist nur so sicher, wie diese Sicherheit auf stabilem humanen Gerüst steht. Sicherheit ist kein technischer Faktor. Keine Überwachungsmaschinerie. Sicherheit besteht aus einer guten Außen - wie Innenpolitik, wie auch auf, und das besonders, dem Vertrauen der Menschen in die Arbeit der Politik. Sie besteht auch im sozialen Netz, das in der Not auffängt und nicht noch zusätzlich schindet. Sie besteht in der Vermittlung zwischen allen Agierenden und einer Transparenz, damit der Bürger weiß und dynamisch reagieren kann. Demokratie, oder ein gesundes Staatsgefüge, sollte immer dynamisch sein, niemals erstarkt, wie es nun der Fall ist. Immer härter formen sich gerade die Fronten. Ein gefährlicher Zustand!

Gesellschaftliches Leben, was soll das sein, muss man sich heute fragen? Denn: eine Gesellschaft beinhaltet jeden einzelnen Menschen! Gleich seiner Hautfarbe, seiner religiösen Ansichten, seines körperlich und geistigen Zustandes oder seines finanziellen Status. Gleich, ob jemand gleichgeschlechtlich liebt oder Schutz vor Terror, Krieg oder Verfolgung  und nach Frieden sucht.  Der Bruch mit der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durchzog sich Jahrzehnte und wurde dann offensichtlicher, als Harzt4 eingeführt wurde. Aber nun geht nicht mehr nur ein Gespenst der Entsolidarisierung um. Wurden einst öffentlich ganz unverblümt die Arbeitslosen als faul und Sozialschmarotzer gebrandmarkt, so setzt man heute noch einen oben drauf, denn die Armen sind es wieder, die die hausgemachte Krise der Banken, Konzerne und Regierungen auszubaden haben. Neben denen, die arm sind, sind auch die Einzelhändler, der Mittelstand, die Betroffenen. Gerade den Armen hat man schon längst die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gedrosselt. Wie viele Jahre geht das schon? Wie viele Berichte Betroffener brauchte man noch?

Diese derzeitige Regierungsform: Nach unten treten, nach oben jubeln - ist eine übelriechende Wiege einer finsteren, kommenden Zeit. Der Turbokapitalismus hat seine Opfer gefordert und nun steht ein Kind dieser Jahrzehnte schon in den Startschuhen. Es werden härtere Tagen kommen, doch glauben wir dennoch an unseren ganz eigenen Gerechtigkeitssinn, glauben wir daran, dass wir in uns Brücken tragen, egal, wie zerrüttet sie gerade sind, glauben wir daran, das starre Systeme niemals eine langfristige Chance haben werden. Das hat uns die Geschichte gelehrt.

In all dem ist es lehrreich nach den Gründen zu suchen. Warum wurde es nun so, wie es jetzt ist. Was hat zum jetzigen Zustand geführt? Welche Geschichte steckt dahinter? Nicht die Oberfläche kann Antworten geben, sondern das Hinterfragen. So, wie zu Beginn meines Textes, was einen Menschen dazu gebracht hat eine Straftat zu begehen, so sollte auch nun gefragt werden, wie es dazu kommen konnte, dass Staaten in eine totalitäre Technokratie abrutschen.

Lotta Blau,Dez.2021