Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Die eine Rose, all die Jahre

Habt ihr es auch gehört? Dieses Heulen, dieses Wimmern durch die Bäume, diesen Regengesang? Habt ihr sie gesehen, die Dächer, auf denen der dunkle Himmel Kreuze im Morgengrauen formte? Wie die Menschen im Sturm hin - und her getrieben wurden, als wüssten sie nicht wohin? Äste, die auf den Boden aufschlugen, abgebrochen, geknickt oder manche Vogelnester vom letzten Jahr auf die Erde fielen? Über die Pfützen preschten die Böen, zeichneten etwas Wildes hinein. Die meisten Menschen verkrochen sich in ihren Häusern. Es könnte etwas passieren, etwas Unberechenbares. Ein Dachziegel mit Kreuz könnte herunterfallen, ein Baum umknicken, sie könnten den Halt verlieren und stürzen. Wer weiß, was jeder da so für Bilder, für Vorstellungen, hat.

Morgens sind ihre Gesichter angespannt, besorgt schauen sie sich um, wenn sie das Haus verlassen. Ist das Auto noch intakt, das Dach noch ganz? Ist ein Dachziegel gefallen? Mit Tränensäcken schauen sie sich um, dann steigen sie in ihr Auto und fahren in ihren Alltag. So ist es nun mal, das Alltagsleben. So ist nun mal der Alltagsgeist.

Frau Schmidt, aus dem zweiten Stock, Mitte, hat das Radio an. Sie berichten es gäbe wahrscheinlich bald Krieg. Sogar vor der Haustür. Ungenießbar, sagt sie zu ihrem Mann. Das Brot schmeckt nicht. Schau, es schimmelt. Sie hält ihm ihre abgeschnittene Scheibe Brot hin und wartet auf seine Bestätigung. Sonntagmorgen. Die Schmidts sitzen am Frühstückstisch.

 

Ach was, sagt Herr Schmidt. Schneid einfach das Schlechte weg. Dann geht es noch.
Nein, sagt sie. Man darf das so nicht mehr essen. Könnte Krebs erzeugen. Ich werfe es weg. Ich kann doch nicht auf Schlechtem herumkauen!

Draußen tobt der nächste Sturm. Durch die undichten, alten Fensterrahmen des Hauses pfeift der Wind. Regentropfen scheinen wie kleine Kanonenkugeln auf die Fenster zu fliegen, nur hinterlassen sie keine Löcher, sondern, wenn es wieder vorüber ist, Staubspuren. Dann müssen die Fenster wieder geputzt werden, damit man klare Sicht hat und die Nachbarn nichts Schlechtes denken. Löcher in den Scheiben gibt es im Krieg oder sie gehen direkt in Scherben auf, die geputzten Scheiben.

 

Auf der blau karierten Tischdecke steht eine Vase mit einer künstlichen roten Rose. Herr Schmidt hat sie letztes Jahr seiner Frau auf der Kirmes geschossen. Fünf Schüsse hat er gebraucht, bis das Röhrchen um den Stil platzte.
Du kannst so gut schießen, sagte sie zu ihm. Ich hätte gerne noch so ein Herz am Stil dazu.
Er bezahlte noch einmal zehn Schuss und schenkte ihr das Herz. Einmal allerdings hatte er es getroffen, statt die Hülse.
Ach, danke, sagte sie und küsste ihn auf die Wange. Sie überlegte, wie lange sie sich eigentlich nicht mehr auf den Mund geküsst haben. Jahre! Aber Radio hörten sie am Frühstückstisch immer noch zusammen. Und Sonntags gab es immer noch ein gekochtes Ei.
Am Reibekuchen-Stand nebenan diskutierte man über die Kriegsgefahr. Deutsche Kartoffeln sind eben die besten, sagte einer. Die schmecken einfach! Und deutsche Kanonen. Die deutschen Kartoffeln kann man wenigstens ordentlich reiben und quetschen und die Kanonen sind zwar heute veraltet, aber man hat damit schließlich schon auf Spatzen und Zitronen millimetergenau getroffen.
Ja, man reibt denen quasi die Seele aus dem Leib, um ordentlichen Teig zu bekommen, sagte eine. Ich gebe immer noch bisschen Pfeffer dazu. Sozusagen die besondere Würze, die bisschen einheizt.
Das passt ja zum kommenden Krieg, gab einer zurück. Wirst schon sehen, wie sie uns dann noch einheizen werden! Da braucht es keine Kartoffeln mehr, da reibt man sich aneinander und quetscht sich die Herzen aus!
Ach, komm, sagt eine. Lerne du erst einmal schießen! Hast ja kein einziges Herz getroffen! Gerade mal bisschen angeplatzt war die Hülse. Für den Krieg taugst du so nichts!
Gott sei Dank!, gab er zurück.
Ach!, du willst also nicht eingezogen werden? Die Dame schaute ihn entsetzt an.
Nein!, sagte er. Ich denke nicht daran. Du etwa? Willst du, dass ich in den Krieg ziehe? Willst du das?
Wenn es doch aber sein muss! Es ist doch nicht mehr so, wie damals. So....na eben so primitiv, oder?
Die Schmidts entschieden sich auf die Kartoffelpuffer zu verzichten und lieber Ofenkartoffeln ein paar Stände weiter zu kaufen.

So war das letztes Jahr.

 

Du, sagte Frau Schmidt...du solltest besser so tun, als ob du nicht schießen könntest. In Zukunft verstehst du davon rein gar nichts und ich lasse die Blume und das Herz verschwinden. Die eine Rose, all die Jahre...Sie haben ja gesagt, es könnte Krieg kommen. Ob es morgen im Radio kommt, dass es soweit ist? Du, sagte sie...nach all den Jahren...ich hab dich lieb und ziehen wir lieber in die Liebe, statt in den Krieg. Er wurde verlegen, strich sich über seinen Schnauzbart und schaute zur Uhr über dem Küchentisch.

 

Schon gleich acht Uhr. Ich muss dann mal los! Er stand auf, nahm den Haustürschlüssel, legte sich seinen Mantel um und ging, ohne sich umzusehen.
Pass auf dich auf!, rief sie ihm noch hinterher. Noch ist Sturm! Wo willst du eigentlich jetzt hin?
In den Garten, rief er zurück. Ich muss sehen, ob alles in Ordnung ist und die Tiere füttern. Weißt du doch! Setzte er noch grantig dazu. Was fragst du immerzu! Dann klackte unten die Haustür zu.

Mittlerweile war Frühjahr. Die ersten Blumen begannen ihre Knospen zu bilden. Langsam wurde das Gras wieder grüner, die Sonne wieder wärmer, der Himmel blauer und die Zitronen begannen in den Straßengräben zu blühen. Aus einem kleinen Krieg wuchs und schwoll ein großer heran und Sonntags gibt es ein Ei, von der Henne im eigenen Garten. Sie hat ein gutes Leben. Am Gartenhäuschen hängt eine Zielscheibe. Herr Schmidt übt und das Radio läuft. Frau Schmidt putzt gerade die Fenster. Zum Mittag gibt es Reibekuchen aus der Pfanne. Die Kartoffeln sind so teuer geworden, denkt sie.

 

Lotta Blau, Feb.2022