Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden



Die Blume der Erinnerung

Er musste in den Krieg ziehen. Es gab kein Entrinnen. Seitdem sind schon Jahre vergangen. Müde ist er. Unendlich müde. Die Welt ist ihm abhanden gekommen. Er weiß nicht mehr welcher Tag es ist, welches Datum. Gerade noch das Jahr fällt ihm ein. Er spürt nichts mehr. Weder seine Beine, noch seine Arme, noch sein Herz. Nur manchmal, ganz selten nur noch, da denkt er an sein früheres Leben und dann spürt er einen stechenden Schmerz in der Brust.

Eines Tages, im Fußmarsch, sieht er zur Seite. Am Feldrand wächst eine Mohnblume. Freude, Liebe...es überwältigen ihn die verschütteten Gefühle und er vergisst, dass hinter dem Feldrand der Feind lauern kann. Die Blume lässt ihn das Elend, die Toten, die Verstümmelten, ja, den Krieg vergessen. Sie erinnert ihn an glückliche Tage, unbeschwerte Jahre, an seine Geliebte. Die Welt taucht ihn ihm wieder auf. Das Leben, das unter dem mechanischen Gehorsam und Befehlen begraben war. Er denkt an Mutter und Vater, an seine Freunde. An die Mohnblume, die er damals seiner Liebe schenkte. Sie trocknete sie in einem Buch, zwischen den Seiten und klebte sie dann in ihr Tagebuch. So erzählte sie es ihm, damals und dann küssten sie sich. Bauch, Herz, Kopf, alles fuhr damals Achterbahn in ihm. Fünf Jahre waren sie ein Paar, dann kam der Krieg.
Mutter und Vater, Geliebte weinten beim Abschied. Er versprach, dass er bald wieder heim käme. Jahr um Jahr verging und jeden weiteren Tag funktionierte er nur noch. Es war ihm alles einerlei geworden.

Die Blume...er starrt sie an. Kann sich nicht lösen von ihrem Anblick. Er hört und sieht nichts mehr, was um ihn herum geschieht. Wie im Trance steht er da. Völlig versunken. Und was eigentlich macht Balu heute? Der Hund vom Nachbarhaus, ein Rottweiler, der so gerne gegen Fahrräder pinkelte und noch nie seiner Aufgabe als Wachhund nachkam, weswegen ihn die Nachbarn eigentlich angeschafft hatten. Viel zu gutmütig. Jeden sah er immer zu aller erst als freundlich an. Wahrscheinlich wäre er einem Einbrecher auch noch um den Hals gefallen.
Mal wieder im eigenen Bett schlafen, mal wieder ein noch warmes Brot vom Bäcker um die Ecke essen, mal wieder Mutters Pudding probieren, den Sonntag einfach Sonntag sein lassen oder mal wieder mit Fritze aus Berlin beim Bier über Gott und die Welt diskutieren.

Fritze...alle nannten ihn so. Niemand wusste aber so richtig, warum eigentlich. Manche Spitznamen bekommt man einfach so ab. Immer, wenn er in Deutschland war, dann trafen sie sich zum Gedankenknacken, wie sie es getauft hatten. Banale Dinge, denkt er. Komischerweise fällt ihm die letzte Briefmarke ein, die er noch über die Zunge ziehen musste, um sie zu befeuchten. Ja...schon lange kam keine Post mehr an. Keinerlei Nachricht von Mutter, Vater oder der Liebsten. Wie abgeschnitten das einstige Leben. Jahrelang...ob sie noch lebten? Ob es sie überhaupt alle noch gab? Wahrscheinlich nicht, sonst würde er ja was hören, oder sie hätten auf seine Briefe damals geantwortet.

Damals, als er noch dachte der Irrsinn hätte irgendwann schon ein Ende. Hoffentlich! Damals, als so manch einer unter den Helmen noch dachte, dass der Krieg schon bald vorbei gehen würde. Als die Meisten sich noch nicht vorstellen konnten, wie es sein würde, müssten sie auf den Feind schießen und wie es sein würde, wenn sie treffen würden. Von Mensch zu Mensch. Von Sohn zu Sohn, Vater zu Vater oder Bruder zu Bruder. Bis die Ersten fielen, das erste Blut floss, die ersten die Brust oder den Kopf zerfetzt hatten, die ersten Gräber ausgehoben wurden, die ersten Kreuze aus Holz notdürftig in die Erde geschlagen und die Ersten dachten: Jetzt bist du ein Mörder. Hast Befehle befolgt. Und dann gingen die Blicke zur Hand am Gewehr. Manche mussten sich dann an Ort und Stelle übergeben, manche erlitten einen Schock, manche drehten durch, andere verfielen in ein  heimliches Weinen oder erstarrten. So, wie er. Er starb auch an jenem Tag, als er das erste Mal traf. Er war nicht mehr er.  

Das Rot der Mohnblüte scheint sich über die Wolken auszubreiten. Die Abendsonne leuchtet über den Feldrand. Eine Amsel setzt sich auf einen Baum und singt zur anbrechenden Nacht. Längst war seine Truppe weit weg. Niemanden fiel sein Fehlen auf. Alle waren erschöpft und Kriegsmüde. Die Schritte wurden schwerer und schwerer, der Gleichschritt mühsamer und mühsamer. Die Uniformen zerschlissen und schmutzig. Die Helme drückten die Köpfe immer weiter nach unten. Die Stiefel hatten durchgewetzte Sohlen.

Dann fällt ein Schuss. Er sinkt auf die Mohnblume, in ihr Rot und erdrückt ihre Welt und das Abendrot deckt ihn zu.

Bild und Text Lotta Blau, 08/2022