Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden



Tage wie diese

Wir seien alle befangen, sagt die Kunstfigur im Stück REGEN von Ferdinand von Schirach. Ja, und eben drum, weil wir alle unsere Welt im Kopf tragen und nur in unserem.

Regentag...es passte zur Veranstaltung, zu der ich wollte. Letztens sah ich Pappeln mit orangefarbenen Blättern. Die Sonne schien drauf, als würde in den Blättern ein Licht leuchten. Von innen heraus. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Einer dieser Momente, die man wahrscheinlich nur einmal erlebt. Ströme...Kopfströme, Herzströme, Vorstellungsströme. Keine Erwartungsströme. Redet man sich immer ein...bloß keine Erwartungen. Ist ja auch wirklich besser. Trotzdem würden wir uns selbst betrügen, würden wir sagen, dass wir keine hätten. Ach, ich meine nun natürlich Dinge wie: pünktliches Taxi, der Regenschirm möge dem Wind stand halten...so etwas eben. Erwartungen sind ja Standpunkte, die jemand momentan vertritt und die bitteschön auch eintreten sollen. Ich erwarte von dir, dass...ist doch den eigenen Wunsch dem anderen zu übertragen, ja ihm überzustülpen. Kann das jemals gut sein? Nun, da kommt die eigene Kopfwelt ins Spiel.

Ich rief mir ein Taxi. Das kam aber und kam nicht und die Zeit drängte. 20 Uhr würde Beginn sein. Circa 20 min braucht es bis zur Tonhalle. Zeit kann sich dann anfühlen, wie eine Ewigkeit. Ich wartete vor der Tür, damit es schneller gehen würde. Der Regen wusch derweil die Bäume, die Dächer, die Straße. Ich mag den Regen. Er musiziert mit den Gegenständen und dem Leben, erzählt über die Dächer, fällt sogar in die alten Schornsteine. Als Kind habe ich es geliebt auf dem Dachboden Zeit zu verbringen. Alles war so still. Im Winter beobachtete ich die fallenden Schneeflocken. Wie sie langsam auf den Holzboden fielen. Der Wind fuhr durch die frisch gewaschene Wäsche. Ein ganz besonderer Geruch. Im Sommer schien durch die Dachluke die Sonne. Der Staub begann zu tanzen. Während er sich im scheinbaren Chaos drehte und herumwirbelte, flimmerte und schimmerte er. An Regentagen rollten die Tropfen über das schräge Dachfenster hinunter. Zogen Bahnen und hinterließen Staubgemälde. Die alten Holztreppen zum Dachboden knarrten und überall schienen Geheimnisse versteckt zu sein. Dachböden sind ja Bewahrer von Lebensgeschichten. Überall lagern Gegenstände, die erzählen können. Heutzutage gibt es leider oft nur noch langweilige, düstere und kalte Keller dafür. Die Häuser sind nur allzu modern geworden und sie strahlen Kühle aus. Die alten Häuser atmen ganz anders. Die Ziegel leben, speichern Wärme von der Sonne und in manch kaputten Steinen sammeln sich Moose oder manchmal sogar Blumen. Noch Tage später kann ich meine Hand an ein altes Haus nach Sonnentagen legen und spüre noch immer die Wärme. Im Regen färben sich die roten Ziegel oft dunkelrot. Bekommen Muster. Manchmal schaut es so aus, als wären es Tränen, während oben, aus den alten Schornsteinen, der Rauch in die Wolken Mahnungen und Bitten buchstabiert. Gerade heute durchfährt mich da ein Schauer...tiefer als zuvor.

Daran musste ich denken, als ich im Regen auf das Taxi wartete. Dann endlich. Der Fahrer war ein Netter und Gescheiter. Wir redeten über dies und jenes Geschehen. Endlich an der Tonhalle angekommen, war es ihm ein Bedürfnis mir seine Telefonnummer zu geben. Ich habe schon ein paar... Vorweg genommen: Ich fuhr dann mit der Bahn nach Hause.

Ich stieg aus. Da kam ein netter Herr mit Schirm angerannt: „Sie sind spät dran!“, sagte er. Ich weiß, gab ich zurück. Der blöde Verkehr. Ich war überrascht und mir fiel nichts Besseres in diesem Moment ein. Ich wunderte mich. Aha, so fühlen sich also die sogenannten Promis, wenn sie aus dem Auto steigen und gleich jemand den Schirm über ihre Köpfe hält, damit kein einziger Tropfen das Antlitz beschädigen könnte. Ich ging rasch zum Eingang und man öffnete mir zum Glück noch die Tür. Immerhin war es bereits 20 Uhr! Ich fühlte mich gestresst...das hatte ich mir so nicht vorgestellt. An der Garderobe spornten sie mich dann noch weiter an: „Gehen Sie schnell! Dort die Stufen hinauf!“ Ich eilte...bisschen Sport schadet ja nie...nun also eine Wadenmuskel - Premiere in der Tonhalle. Stufe um Stufe und dann...da stand eine Schlange um eingelassen zu werden. Ich atmete auf. Aber das Licht im Saal war schon gedimmt und ich konnte die Dame, die mir sagte, wo ich mich hinsetzen sollte, nicht wirklich verstehen. Alle quasselten durcheinander. Erkennen konnte ich auch keine Platznummern, da zu dunkel. Außerdem hatte ich eigentlich einen Platz außen am Gang und nicht hinten in der Ecke. Da hatte ich mich wohl vertan. Die Ecke war es doch! Dann ging schon die Vorstellung los und Ferdinand von Schirach betrat die Bühne. War mir das unangenehm...ich stand als Einzige im Gang herum. Ich hockte mich neben einen Mann und bat ihn mal zu schauen, ob er diese kleinen Buchstaben im Halbdunklen sehen könne. Er bemühte sich, konnte es aber auch nicht sehen. Zum Glück kam dann doch noch einmal eine Dame und zeigte mir konkret meinen Platz. Alle mussten noch einmal aufstehen und mich durchlassen. Ich kam mir vor wie in einem Sketch bei Loriot und hatte kurz den Gedanken über die Lehnen von unten zu meinem Platz zu klettern. Verwarf das aber schnell wieder, denn mir war das eh schon sehr unangenehm. Außerdem würde es wohl urkomisch aussehen. Nein, nein...

Endlich...mein Platz! Was soll ich sagen: Das Programm, die Vorstellung, schleuderte mich von einem Gefühl zum nächsten. Den Inhalt kannte ich schon, denn ich hatte mir das Hörbuch gekauft. Dennoch, von der Bühne war es doch noch einmal ganz anders. Viel intensiver. Teilweise bisschen heiterer, dann bisschen ernster, dann bisschen ironischer. Es gibt Stimmen, denen ich tagelang zuhören könnte und es wird nicht langweilig. Diese, seine Stimme, gehört dazu. Die ist es ja aber nicht allein, sondern ich mag die Vielfältigkeit seines Denkens. Diese ironischen Spitzen zwischendurch und dann wieder da kommen Aussagen und Beschreibungen, die mitfühlen lassen.Wehmut und Traurigkeit schimmern durch. Gleichzeitig sind da so einige Dinge, die auch ich annähernd schon gedacht oder gefühlt, oder gar erlebt habe. Sicherlich, das Bühnenstück stellt ja eine Kunstfigur dar. Ein Mann kommt aus einer Bar...in einer Bar wird viel erzählt. Ungefähr so, wie manchmal in einem Taxi. Solch eine Kunst-Figur, die dadurch vielleicht entsteht, kann man viel und beinah alles erzählen lassen. Und das ein oder andere ist dabei dann doch vielleicht keine Kunst, sondern Lebenserfahrung. Manches sehe ich anders, manches hat mich wirklich amüsiert und manches muss gerade heute wieder und wieder gesagt werden! Das -Alte Neue-, wie auch Brecht schon anmerkte,  ist ja (wieder) da! Der Antisemitismus. Da gab es auch kräftig Beifall, als er das ansprach. Gut so! Gegen jede Form von Extremismus müsse man aufstehen! Gut so! Beifall!

In diesem Zusammenhang des Miteinander. Wissen Sie, gerade hab ich zwei türkische Frauen kennengelernt. Wir kamen über ein lustiges Moment ins Gespräch, das ich nun aber hier nicht beschreibe. Ich komme direkt zum Kern. Wir drei Frauen waren uns einig...miteinander statt gegeneinander, egal woher. Miteinander reden sollen wir, den anderen sein lassen, so lange er natürlich niemanden schaden will, respektieren. Die Wahrheit sprach die eine an. Was ist aber Wahrheit sagte ich zu ihr. Sehen Sie, als Beispiel: Sternbilder sehen wir hier so, die Indigenen sehen sie schon wieder ganz anders, in Japan werden sie so gesehen, in China wieder so. Jeder meint seine Sicht ins All sei die wahre. Ist das so? Natürlich nicht. Es hat nämlich jeder seine eigene Wahrheit im Kopf und auch nur da. Besonders die eine Frau hat es gerade nicht so leicht. Ihr Sohn macht ihr Kummer, da er sehr krank ist. Sie suchte bei mir Hilfe. Was könne sie tun, um ihn aus dieser schwierigen Situation zu holen. Sie erzählte... Ich ging mit ihr die Möglichkeiten, die mir dazu spontan einfielen, durch. Die andere Frau erklärte sich bereit etwas darüber in Erfahrung zu bringen. So fügte sich alles. Jedenfalls wünschte ich ihr alles Gute und Liebe für sich und ihren Sohn.  Das sagte sie auch noch: Wir sind alle Eins. Stammen alle von Adam und Eva ab. Nun, natürlich sagte ich ihr, dass ich diese Ansicht (Adam und Eva) nicht unbedingt teile, aber sie respektiere. Und ich sprach davon, dass wir alle voneinander lernen können, ja geistig und emotional wachsen können. Sie nickte. Sehen Sie, es gibt nicht "Die und Die". Nur der Hass, der macht jede Logik und Emotion zunichte. Er käme aber jetzt, der Hass...sagte die eine Frau. Es könnte alles so einfach sein. So miteinander eben. Sie würde viel für mich beten und war sehr dankbar.

Überhaupt, zurück zum Theater-Stück. Solch ein Einmann-Stück ist im Prinzip ja wie ein innerer Dialog, den man stetig mit sich selbst führt. Nur, dass da nun andere mithören, was man sich selbst so Tag für Tag erzählt. Genau das kam so gut im Publikum an. Ich las vorher schon die Verrisse. Käme nicht gut an...der Ton würde nicht stimmen...überhaupt, was da gesagt würde. Käme nicht gut an...Wissen Sie, gerade dann lese, sehe und höre ich mir das jeweilige Werk an! Ich will mir nämlich ein eigenes Urteil bilden. Aber nicht doch...wie das  schon wieder klingt: Urteil! Wird dem doch überhaupt nicht gerecht. Wissen Sie, trotzdem ich das alles schon vom Hörbuch wusste...allein, wie die Menschen reagierten, wie der Autor selbst agierte, war es doch Wert vor Ort zu sein. Ging ich gefüllt von Inspirationen mit einem Lächeln und doch auch irgendwie  nicht das Ernste vergessend nach Hause. 

Wie gesagt: Es wirbelte mich von einem zum anderen Gedanken und Gefühl. Es ist schon eine Kunst, die Geschick braucht, sowohl in der Rhetorik, als auch einen klugen Kopf. Informationen so miteinander zu koppeln, dass daraus solch ein Werk wird, das setzt Talent voraus. Die Literatur kann gerade solch einen frischen Wind gut gebrauchen. Mal ganz abgesehen von all den anderen Büchern, Ideen und Mit-Mach-Werken wie zum Beispiel das Stück GOTT. Ich kenne einige Leute, sowohl Schauspieler, als auch Regisseure, die von der Mottenkiste Theater sprechen. Einfach, weil oftmals die Luft raus ist und es in Effekthascherei endet. Das eigentliche Stück völlig entfremdet. Da sind doch solche Autoren wie Ferdinand von Schirach eine gute Quelle, zu sehen, wie es auch geht und dabei noch so wichtige Themen behandelt, wie zum Beispiel die Sterbehilfe oder überhaupt großes, vernetztes Thema: urteilen. Ja, was gibt es denn überhaupt Besseres, als solche brisanten Themen auf eine Bühne zu bringen?

Wir seien alle befangen, sagt die Kunstfigur in REGEN. Ja, und eben drum, weil wir alle unsere Welt im Kopf tragen und nur in unserem.

Lotta Blau/NOV. 2023