Tage wie diese
Das letzte Hemd
Seit wann sie schon da sind? Ich weiß es nicht. Vielleicht ein paar Monate. Ich sehe sie, wenn ich einkaufen gehe oder die Straße hinunter schlender. Sie wirken sehr erschöpft. Der Welt abhanden gekommen und doch suchen sie irgendwo einen Zugang zur sogenannten Normalität. Was ist schon normal? Aber das ist nur meine Frage, nicht ihre, wahrscheinlich. Ihnen wird ja von der breiten Gesellschaft, der Politik und Wirtschaft täglich ihre Unfähigkeit richtig zu leben unterstellt. Armut ist ja ein Goldesel, aber zu arm darf es dann auch nicht sein. Das letzte Hemd geht noch, dann ist aber Schluss. Da ist dann wirklich nichts mehr zu holen.
Die Frage kommt dann auf: Wer darf sich Mensch nennen? Nur jene, die außerhalb dieser nackten Existenz leben, jene, die noch das letzte Hemd anhaben und jene, der Mitte und ganz oben natürlich. Ich finde, dass ganz oben völlig falsch gesehen wird. Ganz oben sehen die Probleme ganz anders aus, als vom Rand oder aus der Mitte, ebenerdig sowieso. Ganz oben fehlt oft die Realität. Ich wüsste jedenfalls nicht, dass Politik oder Wirtschaftsbosse einmal solche Menschen, wie vor der Einkaufspassage, besucht hätten. Oder? Direkt vor Ort, aus der nächtlichen Kälte raus. Oder jene, die ihren Schlafsack durch die extra mit Bügel geteilte Bank geschoben haben, damit sie trotzdem dort schlafen können. Oder jene, die in der kleinen Innenstadt Benrath die fiftyfifty- Zeitung verkaufen. Eine ist mir dabei besonders ans Herz gewachsen. Ich glaube, sie kommt aus Rumänien. Ein ganz liebes Gesicht hat sie unter ihrem Kopftuch. Mir gefällt ihr Tuch. Es passt zu ihr.
Manchmal denke ich, die Würde kann auch einen Menschen brechen. Die Würde ist antastbar, so Ferdinand von Schirach. Sie kann sogar ganz verschwinden, obwohl sie im Grundgesetz verankert ist. Dann, wenn Menschen sich als würdelos empfinden. In Japan gibt es viele Obdachlose. Sie sind beinah unsichtbar, denn sie kleiden sich weiterhin sauber und fein und in ihrem Verhalten können sie von anderen draußen nicht unterschieden werden. Die Würde nahm und nimmt man ja auch immer noch vielen Frauen. Sei es als Kriegspfand, als Vergewaltigungsopfer oder indem man ihnen, wie in Afghanistan sogar die Stimme verbietet. Die Friedensstatue für die sogenannten „Trostfrauen“ in Berlin soll ja nun auf Druck Japans weg. Während des Zweiten Weltkriegs wurden viele Frauen zum Beispiel aus Taiwan oder China durch das japanische Militär entführt und systematisch vergewaltigt. Nun soll die Erinnerung daran weg.
Müsste Armut nicht unter Einhaltung des Grundgesetzes behoben werden? Wohnen ist Grundrecht. Es ist ja nicht nur die Frage, wie mit der Würde eines Menschen umgegangen wird. Nicht nur von oben, sondern von Mensch zu Mensch. Da darf es kein DIE und DIE geben. Schweitzer sagte einmal, dass der Mensch den anderen Menschen als Nebenmensch sieht. Damit wird gesellschaftliche Distanz geschaffen und wenn man mehr in dieses Thema eintaucht, dann ist diese Distanz stets ein guter Ansatz für allerlei üble Machenschaften gewesen. So zum Beispiel um die Armen als Abzocker zu betiteln. Mit diesem aus der Realitätsfremdheit geschaffenen Populismus wird dann zum Beispiel auf Wahltour gegangen. Nur ein Beispiel. Oder die Zwischen-Leere wird geschaffen, um auf Kriege einzustimmen, auf Rüstung und menschenverachtende Verhaltensweisen, wie auf Befehl andere Menschen zu töten. Da darf natürlich nicht der Gedanke kommen, dass der angebliche Feind, wohlgemerkt der Unschuldige, eigentlich so wie Sie ist. Der morgens gerne Kaffee trinkt, sich gestern noch wegen irgendeiner Kleinigkeit geärgert hat, seine Kinder liebt oder seine längst verstorbenen Großeltern vermisst. Vielleicht auch gerne ins Theater geht oder Rockmusik hört, jene Literatur nicht ausstehen kann oder die Autorin ganz besonders gerne mag. Unter Umständen wäre man sich vielleicht sogar einmal begegnet. Oder Menschen wären sich über die heute so modernen Dating-Plattformen begegnet. Jahrmärkte der Täuschungen und Eitelkeiten, und der Ware der Gefühlsspiele. Ich halte davon nichts. Diese Form des Glückspiels finde ich fatal. Angebliche Liebe als Ware. Wenn es nicht mehr passt, dann wird ausgetauscht. Der oder die Nächste wartet ja schon im PC-Bildschirm oder in einer App. Liebe vom Fließband oder wie ein Schnitt aus einer Modezeitschrift. Nein, so kann es nicht funktionieren. Vielleicht in Einzelfällen. Aber dauerhafte Gefühle entstehen anders, als auf Knopfdruck bzw. Tastendruck. Da ist doch etwas Magisches, wenn man sich zum ersten Mal in die Augen sieht, ohne sich vorher jemals gesehen zu haben, auch nicht als Bild im PC. Ein Austausch ohne Worte. Zumindest um dauerhaft monogam zu lieben und geliebt zu werden, braucht es doch diesen Zauber. Natürlich könnte dieser nun wieder wissenschaftlich erklärt werden und doch entzieht sich noch immer einiges. Weil es mit der Wunschvorstellung vorm PC eben so oft nicht funktioniert, funktionieren eben diese Fließband-Plattformen und verdienen an der Wegwerf-Konsum- Welt.
Manchmal lässt Lenni, ich nenne ihn so, ein kleines Kofferradio laufen. Die Töne schwingen durch die Einkaufspassage. Er sitzt daneben, summt mit. Sie ist dann nicht da. Ich weiß nicht, wo sie dann ist. Sie ist sehr krank. Mehrere schwere Krankheiten plagen sie. Zusätzlich zum kalten Asphalt. Sie sind Mann und Frau und wenn ich mit ihm spreche und er mir erzählt, dann bleibt sie immer im Hintergrund. Schaut mich an, manchmal lächelt sie. Manchmal denke ich, es ist jene Frau, die vor ein paar Jahren in einer Ecke einer Bushaltestelle saß. Ihre Brille war angelaufen, neben ihr lief das Regenwasser hinunter. Es sammelte sich, bevor es zum Bordstein lief. Es war Herbst und es war kühl. Als ich sie ansprach, wirkte sie scheu. Ein verletztes Reh, das nicht mehr wusste wohin eigentlich noch flüchten. Damals kontaktierte ich fiftyfifty. Sie mögen bitte jemand schicken, und sie halfen ihr.
Lenni wirkt unkompliziert, höflich. Ich brachte ihm einmal morgens ein Brötchen vom Bäcker mit. Hatte ihn gefragt, ob sie auch was haben möchten. Sie wollte nichts, er ein belegtes Brötchen mit Ei. Anfangs spürte ich seine Scheu, doch nun fasste er Vertrauen.
Kürzlich stand er morgens aufgelöst und nur im Unterhemd und bat die Wartenden vorm Bäcker um eine kleine Spende. Er erkannte mich wieder und begrüßte mich. Na, wie geht es?, fragte er. Gut, sagte ich, aber was ist denn passiert? Warum nur im Unterhemd? Jemand hat unsere Tasche geklaut, erzählte er. Und was macht ihr nun?, fragte ich. Zur Kleiderkammer will er, aber ob die überhaupt offen hat? Moment, sagte ich, ich geh zum Bäcker und dann kann ich wechseln und bisschen was geben. Ich war auf dem Weg zur Arbeit, sonst wäre ich selbst zur Kleiderkammer gefahren oder hätte was im Geschäft für die Beiden gekauft.
Tagelang beschäftigte mich die geklaute Tasche und diese zwei armen Menschen und ihre Geschichte. Was ist das nur für eine Welt, da die Ärmsten noch beklaut werden? Wer macht so etwas? Mir ist schon bekannt, dass in den Unterkünften gegenseitig gestohlen wird. Aber diese Zwei übernachten draußen. Vor einer Passage. Ihr Rollstuhl steht oft dabei. Ihre Beine sind dick verbunden. Er wirkt zerbrechlich. Er spricht so klug, und so ruhig ist seine Stimme. Seine Augen sind in einer anderen Welt, als hätte er mit dieser längst abgeschlossen. Als wäre es woanders besser. Als hätte man dort einen friedlichen Platz für ihn und seine Frau. Er beschützt sie. Manchmal schläft sie tagsüber. Dann liegt sie seitlich einfach auf einer Decke oder Jacke. Er sitzt davor und passt auf. Ich bin froh, wenn sie schläft, sagte er mal. Manchmal ist sie Nacht um Nacht hintereinander wach. Vielleicht ist der Schmerz im Schlaf nicht mehr so laut, wie im Wachsein. Aber wenn man vor lauter Schmerz nicht schlafen kann?
Wenn er so laut nach Hilfe in die Leere, in die künstlich gesellschaftlich geschaffene Distanz, brüllt, dass keine Ruhe gefunden werden kann?
Bild und Text Lotta Blau/ 08/24