Zwischen - Entscheidung
Heute Nacht sang eine Amsel. Niemals vorher hörte ich einen dieser Vögel um diese Zeit singen. Ich dachte erst, es wäre eine Täuschung. Sie klang laut und bestimmt. Vom alten Kohlehafen blickten die letzten Kräne über den Rhein und warfen ihre Lichter durch den Nebel. Gespenstisch, diese Stimmung. Die Straßen leer und beinah lautlos. Bis auf vereinzelte Geräusche. Zum Beispiel ein Fenster, das geschlossen wurde. Der Nebel breitete sich aus. Umwickelte die Dächer, hüllte die Schornsteine ein,tat so, trieb sich durch die Gassen. Das Wasser im Rhein dampfte an den Ufern vor sich hin, als wenn es die Nacht kochen würde. Mein lieber Bruder, du liegst zwischen Hier und Dort. Wofür wirst du dich entscheiden? Übergang oder bleiben? Schwellen-Zeit. Jetzt bist du ein Todes - Pendler und entscheidest, wann und ob der große Gong schlägt.
Jeder denkt an das tägliche Erwachen aus dem Schlaf. Jeder plant das Morgen und schaut auf die Uhr am Arm. Aber die einzige Uhr, die Wahrheit spricht und tickt, die lebt in uns. Egal, wie man sie pflegt und hegt, oder sie versucht zu umgehen, sie ignoriert, sie lässt sich nicht manipulieren. Unerbittlich atmet sie ein und aus. Mit jedem Atemzug einen Schritt weiter zum Sandgetriebe, das einmal Stillstand ausrufen wird. Mein lieber Bruder, jetzt ersuchte dich der Nebel mit seiner Feuchte. Er kam aus dem Fluss gestiegen, trug seine Feuchte vergangener, trauriger Tage in dein Uhrwerk und warf dich nieder. Mein lieber Bruder. Deine Wunden schreiben deinen Weg. Ich hab sie singen gehört. Glaubst du in deinem Zwischen, du könntest sie wiedersehen? Die Liebe kann auch morden, sie kann Herzen kreuzigen und Eismeere auf die Wege streuen. Vielleicht wirst du zu ihr gehen und sie wird endlich ihre Splitter aus den Gedanken reißen. Du bist dran - Zwischen Hier und Dort. Es wird dein Weg.
Bild und Text Lotta Blau, 2021