Tage wie diese
Tag für Tag Geschichten
Wenn man schreibt und jemand oder irgendetwas unterbricht diesen Prozess, in dem man sich mit Haut und Haaren befindet, dann ist das oftmals wie ein kleiner Tod. Es ist als würde man aus jenem Werk gerissen, an welchem man gerade schreibt. Der Kopf will streiken, das Herz rast, manchmal wird man bisschen missmutig und ärgert sich darüber. Es ist, als wäre ein roter Faden plötzlich abgerissen oder ein Film hätte einen Riss und bleibt stehen. Dieses Gefühl kennen wahrscheinlich alle die schreiben. Die Figuren des Textes leben schließlich. Erschaffen für diesen einen Text begannen sie zu atmen. Den Atem der Schreibenden. Ja, wirklich, Texte und Bilder sind wie Kinder, nur hat man sie allein gezeugt. Ich bin also sehr kinderreich. Obwohl mein einziges Kind schon groß und erwachsen ist und sein Leben lebt. Was ist das Schreiben bloß für ein unglaublicher Vorgang. Ungestört ist der Schreibprozess vielleicht mit einer Bahnfahrt zu vergleichen. Man wartet auf eine Geschichte im Kopf, dann steigt man ein und beginnt zu schreiben, dann gibt es mal mehr mal weniger Haltestellen, also Pausen oder Unterbrechungen, dann kann es zwischendurch wirklich auch mal dunkel werden - um dann beinah fertig zu sein und das Gefühl einer geistigen und herzlichen Geburt zu haben.
Es gibt, wie bei anderen Kunstformen auch, das improvisierte Schreiben. Einfach drauflos schreiben. Den Text sich entwickeln lassen. Geht ja auch mit Musik oder dem Malen. Warum also nicht auch im Schreiben. Wer traut sich das? Wer hat den Mut dazu ohne Kopf-Gerüst eine Geschichte zu schreiben? Manchmal schreibe und male ich so und bin jedes Mal wieder erstaunt aus welchen Tiefen sich da etwas herausschreibt oder malt. Na gut...neu ist diese Idee nun wirklich auch nicht.
Oft, wenn ich in der Bahn sitze, sehe ich in das Kino nach draußen. Manchmal kann ich dann alles um mich herum vergessen. Dort drei alte Frauen in einer Haltestelle, dort eine Frau, die sitzend auf einer Mauer an ihrer elektronischen Zigarette zieht. Sie bläst beim Erzählen den Rauch in das Gesicht des Mannes neben ihr. Eine Dampfwolke fährt über seinen Kopf als wäre er der größte Denker aller Zeiten. Sogar so, dass man das Denken sehen kann. Der Traum aller Bösewichte... oder der alte Mann mit dem Einkaufswagen. Er will sich nicht helfen lassen. Hat zwei Gehhilfen im Wagen, hängt über dem Griff mit dem Oberkörper und schleift seine Beine mehr oder weniger hinterher. Die alte Frau, die nur noch nach vorn gebeugt gehen kann. Schulkinder, die in ihrem Slang sprechen, den die Älteren nicht mehr verstehen. Stefan Zweig berichtete in Die Welt von Gestern auch über seine Schulzeit. Damals verdunkelte man die Fenster, damit die Kinder nicht nach draußen sehen konnten und gar zu träumen begannen. Schule sei Qual gewesen, schrieb er.
Ich frage mich zum Beispiel oft, wie alte Menschen wohl früher ausgesehen haben könnten, was sie erlebt haben. Oder was die Kinder noch erleben könnten. Dann wieder fallen mir viele kleine Bäumchen auf, die an den unmöglichsten Stellen wachsen. Zwischen Glas der Haltestelle und der Straße oder Wildpflanzen, dessen Namen ich nicht weiß und dann nachschaue. Wer kennt zum Beispiel den gehörnten Sauerklee oder das gewöhnliche Ferkelkraut? Manche Namen finde ich sehr merkwürdig und frage mich, wer auf solche Namen kommt. Ich male mir einen gehörnten Ehemann aus und zum Ferkelkraut schweige ich lieber.
Als ich dann gestern in der Bahn saß und wieder beobachtete, bemerkte ich, dass mich jemand, mir gegenüber sitzend, ansah. Ich war aber noch in den Filmen draußen, sah ihn auch an, aber noch nicht wirklich bewusst. Vielleicht wirkte das sehr ernst. Ich weiß es nicht. Dann aber...Mir gegenüber saß ein wunderbares Gedicht oder eine Morgen – Geschichte. Text-Blicke...Blick-Geschichte...Blick-Wechsel. Sehr interessantes Gesicht..... Aufgeschrieben...
Lotta Blau/2023