Stadtmorgen
Sphären...mein Traum noch in seinen tiefen Gewässern. Ich gehe durch den Morgen. Die Nachtbilder beginnen zu verblassen. Stadtlärm plustert durch die Straßen. Unter den Laternen verlassen Nachtfalter ihren Mond. Dunkle Flügel tragen die Übergänge in ihre Staubbäche. Überall atmet er sich. Durch alles und in jedes Leben hinein und heraus. Nichts wird bleiben von dem, was man nicht festhalten kann.
Morgenröte über ihren Dächern. Dort...ein schwarzer Vogel tötet gerade eine Taube. Ein Mann sieht es. Verscheucht den Vogel und beugt sich über die Taube. Ihr Kampf wird bald verloren sein, denn ihr Herz ist verwundet. Es hat keinen Sinn, sagt er zu mir. Ja, das stimmt. Das Sterben ist schon in seinem Hauch über dem Gefieder. Der schwarze Vogel wartet darauf zu fressen.
Schon sind mehr Menschen unterwegs. Samstag früh. Ich sehe die ältere Dame wieder. Sie erzählt mir oft ihre wirre Welt. Diese Schuhe sind ja wunderschön, sagt sie zu mir und blickt auf meine Sandalen. Aber ich könnte so etwas nicht tragen, fährt sie fort. Ich setze mich neben sie und warte auf die Bahn. Man wolle sie umbringen, sagt sie zu mir...schon damals, in der Psychiatrie...schon damals...und dann der eine Pfleger, der sich ihr genähert hätte. Jetzt stört sie der Pflegedienst. Zu viele Tabletten sagt sie...
Durch ihr wirres Haar weht der Wind und macht es noch wirrer. Ihre ganze Welt scheint wirr, wie große Stürme, doch es ist eben ihre Welt. Und ich höre ihr zu, sage beinah nichts. Lasse sie reden... Man gibt ihnen so ein besseres Gefühl, dass man sie ernst nimmt. Ab und an nicke ich...ich verstehe, sag ich manchmal. Arme Seele, was hast du wohl alles erlebt in deinem inneren Kartenhaus, denk ich. Es kann so schnell stürzen und braucht dann Zeit, bis es wieder aufgebaut ist. Aber wer weiß schon...ob der Aufbau jemals beginnen kann, wenn das Fundament keinen Halt hat. Doch was bedeutet das schon...wer kann schon behaupten seine Welt sei die einzig wahre? Und wer kann sich schon als "Normal" bezeichnen...wer das tut, ist es sicher nicht.
Meine Bahn kommt...ich verabschiede mich von ihr, der Verlorenen. Die tote Taube fährt mit...als wäre sie ein Symbol dieser Zeit und die Verirrte, als wäre sie ein Sinnbild allen Irrsinns dieser Tage.
Lotta Blau, 2020