Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Sekunden-Fäden

Sie rieseln durch uns. Verweben sich, wie schimmernde, zarte Luftfäden durch die Atemzüge. Schwerelos berühren sie das Uferlose in uns. Treiben Lebenszeit durch unsere tiefsten Gründe und entwickeln die Bilder in uns. Hinterlassen sie in Zeitlupe oder ziehen Furchen, in denen begräbt man sie. Andere verwehen sich scheinbar und werden unsichtbar. Bis jener Moment des Erlebens irgendwann durch ein Wort, einen Duft oder ein Ebenbild die Vergangenheit wieder aus dem Dunklen holt. Wir sind alle Kokongesponnene. Eingehüllt in den Stoff der Momente. Umstrickt und umgarnt, voller Luftfäden und Gedankenspiegel. Die Fensterscheiben tränen sich an den Tagen hinunter. Und liebkosen ihre Nächte. Ihre Blicke durch die Wimpern wollen vor Frösten schützen, doch die schöne Welt gefriert sich oft und bleibt als Eisperle an den Augenfäden hängen. Wer weiß, ob sie jemals auftauen und sich ins innere Meer tauchen können. Bis sie zu Schaum werden und mit den Sekunden über das Zeitgesponnene balancieren. Am Ich-Grund wächst eine Wiege in die Meere hinein. Dort sind wir, mit dem, was wir meinen zu sein und mit dem, was wir meinen zu werden. Mit dem, was wir sind kentern wir im Lebensgefüge. Immer wieder gehen wir unter und tauchen wieder auf. Wir haben gelernt, dass man den Atem an die Luftfäden der Sekunden hängen kann. Wir wollen wir sein, aber zerschellen an den Klippen unserer Unfreiheit. Verängstigt graben wir in den Gründen. Verunsichert taumeln wir zwischen Wollen und Tun, zwischen Angst und Mut, zwischen Liebe und der Furcht davor. Derweil versuchen sich die Sekunden-Fäden ein Gefüge zu erschaffen, das sich verbinden will. Ins End-Lose. Nur das Lebendige kann das. In dem auch das Wilde und Ungehorsame lebt und die Verweigerung Gräber der Zukunft zu bauen. Bausteine sind wir. Winzlinge und doch fällt jedes ein, wenn wir uns entziehen. Wir können uns die Hände schenken und zärtliches, liebevolles Tun. Und wir können Gespiegelte sein. Aus unbestimmter Sekundenzahl zersplitterte Bilder, die sich zueinander kleben. Bis zum Verstehen, was Mensch bedeutet.

Bild und Text Lotta Blau, 2020