Postludium
Sie schreit! Bei Gott! Sie schreit! Er schreit! Bei Gott...er schreit! Es schreit! "Bei Gott!" Über den Köpfen beginnt Rauch die Wolken zu schlucken. Riesiger Schlund. Undurchsichtig. Schwarze Felder wachsen am Himmel, wiegen blutiges Korn, das sich über die Erde schüttelt. Blutige Samen brechen aus ihm aus, säen sich, wachsen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert in die Zeitlosigkeit. Für immer, für ewig.
Durch das offene Fenster weht der Wind einige Samen über Bücherreihen. Regale an Regale gesammeltes Geschichtswissen. Museen voller Namen. Schulstunden voller Bilder. Universitäten voller Vorträge und Bibliotheken. Die Bücher winden sich, sie würgen, sie ächzen ihre Buchstaben, ihre Worte, aus ihren Seiten. Zitternde Satzvögel rufen aus ihnen. In ihren Flügeln hatten sie die Toten und das Leid gehüllt. Vielleicht endlich Einkehr in die tiefsten Gruben, zum Erkennen, zum Äon des Werdens – Mensch. Steh doch endlich in dir auf.
Jahrtausende spricht immer wieder Morgen. Immer wieder Morgenglut, immer wieder Auslöschung.
Die Sterne verlieren ihre Sprache über den Rauch. Melodien voller Tintenfedern, voller Schreibmaschinengeräusche, voller Computertasten. Schreibende Hände kriechen aus den Büchern. Habt ihr nicht gelesen? Wenn der Staub sich festsetzt, dann ist es zu spät. Jetzt frisst sich Finsternis durch die Zungen, wie ein krankmachender Wurm. Bis in die Augenhöhlen, lässt dann Feinde sehen und Krieg sprechen.
Bei Gott!, schreit er.
Nimm die Waffen, schreien sie!
Bei Gott!, schreit er! Ich habe keine Hände dazu!
Schieß!, schreien sie.
Ich kann nicht auf mich selbst zielen!, sagt er, der Frieden.
Stell dich an die Wand!, schreien sie ihn an.
Sie schreit! Bei Gott! Schreit neben ihm her.
Wer bist du?, schreien sie. Nimm deine Binde von den Augen und leg die Waage weg!
Postludium. Die Gräber bewegen ihre Steine. Die Gefäße in ihnen platzen. Da wurd Licht zu Blut und Himmel zu Knochenfelder. Drauf säten sich die blutenden Samen und es wurd Korn und dann Brot auf ihren Zungen.
Lotta Blau, 05/22B
Bild: Brandbilder/ Den Frieden getroffen/ Lotta Blau, 2022