Niemand und Jeder
Niemand klopfte an die Türen und bat um Einlass. Niemand stellte sich vor, als jemand, der Niemand hieß. Niemand wollte den Frieden und pfiff ein Lied darauf. Tagein und tagaus ging Niemand ging durch die Straßen, klingelte an den Türen, sprach ein Gelöbnis in die Luft: Lebe, Liebe...Niemand schrieb eigenartige Zeilen. In etwa so: Niemand will dann Niemand sein und Niemand will gewusst haben.
Jeder wollte dagegen jeder sein. Jeder war nicht unsichtbar, wie Niemand. Jeder hatte eine Wandlung durchgemacht. Vom Freund zum Feind, vom Reisenden in bunten Kleidern zum Gedankensoldaten in wechselnder Uniform. Heute noch verpuppt, morgen hing die Hülle am Haken. Perfekt angepasst an die Umgebung und die Überlegenheit.
Jeder hatte es noch bis vor einiger Zeit nicht interessiert, was ein anderer Jeder so denkt, so wählt, überhaupt, wie Jeder so lebt. Es war eine Zeit, da Jeder sich auf sein Leben beschränkte. Allerhöchstens wurde sich über das und anderes brüskiert: Gott, schon wieder all die Toten, ach, schon wieder diese furchtbaren Zustände. Aber natürlich, sagte Jeder, sind wir weltoffen, gegen Kriege und füreinander stehen wir auch. Selbstverständlich liebte Jeder seinen Nächsten. Jeder war schließlich ein Unikat, ein Musterschnitt, beinah wie in einer Modezeitung. Aber Mode kommt und geht, oder etwa nicht?, rief Niemand dazwischen. Die Vergangenheit hat ja auch einen Schnitt. Mit merkwürdigen Rändern. So zackig, zum Auspressen aus der Modezeitschrift. Da gibt es doch so ein Rädchen, mit dem der Stoff für Morgen aus dem Geist rieselt.
Sprache ist auch der schicken Mode unterworfen. Genauso kommt und geht sie, die Sprachmode. Manche Wörter hält man Jahrzehnte für tot. Irgendwann tauchen sie plötzlich, wie Phönix aus der Asche, wieder auf. Andere sind tatsächlich ausgestorben. Wie ein Urtier verschwunden. Einige liegen deutlich am Rand zur Auslöschung. Ehrlichkeit oder Leben. Gerade sind wieder schon längst totgeglaubte Wörter unterwegs. Welche, die man bis vor Kurzem noch verabscheute. Jeder tat jedenfalls so. Nun musste festgestellt werden, dass das ein oder andere wieder Mode wurde. Vielleicht lagen ihre Schnittmuster nur vergilbt und kränkelnd in den Regalen. Jetzt blühen sie wieder auf. Du Sozialschädling, asozial, du Gefährder, du Bekloppter, du gefährlich kranker Gesunder. Weggesperrt, ausgegrenzt, gemobbt, ruiniert gehörst du. Lass sie doch sterben, diese Ungehorsamen, ruft es. Verweigert ihnen das Leben, klingt ein altes Lied über die Knochenfelder. Jeder hat seine Unschuld verloren und seine Glaubwürdigkeit und verkauft seinen Hals an dicke Bäuche, die innen rumoren und kochen. Sie brauen Taler an Taler zusammen. Brav...brav...da nimm, sagen sie. Und werfen Reste von Nichts vor die Füße. Sieh nur, wie großzügig wir sind. Und die dicken Bäuche schmatzen und freuen sich der Kriechenden. Gott, sagte Jeder, wir müssen euch anbeten.
Jeder sprach von Gott. Der eine Jeder so, der andere Jeder so. Der eine nahm es hin, der andere Jeder störte sich daran. Niemand habe ihn schließlich gesehen, sagte Jeder. Niemand aber bestritt das. Niemand sah Gott je mit eigenen Augen. Jeder hat ihn doch im Herzen, sagte Jeder. Da kann man ihn auch sehen, wie er von innen nach außen blickt. Niemand bezweifelte das. Wenn das so wäre, sagte pathetisch Niemand, warum ist dann die Welt, wie sie ist? Und warum gibt es dann so viele Niemand. Statt dass jeder Niemand ein Jeder sei. Zur Welt und zum Leben gehörend. Zugehörig, zuhörend, sagte Jeder.
Aber Niemand blieb Niemand, so wie ein obdachloser Mensch, den man nur sah, wenn man ihn sehen wollte. Die meisten Jeder will oder können nicht sehen. Der eine Jeder, weil die Scheiben in ihm zerbrochen sind, die anderen Jeder, weil sie lieber dem Gehorsam frönten und Gefühl des Schmutzes in ihnen hoch kroch, wenn sie die Armut ansahen. Das beschämte sie. Es gehörte sich nicht, derlei Unanständigkeit zu zeigen. In dieser Welt, sagte Niemand darauf zum Jeder, da darf alles glänzen, nur nicht das Elend. Denn würde es glänzen, dann sähe Jeder den wahren Zustand der Niemandswelt. Jeder will so etwas nicht sehen. Und die sich noch verzweifelt klammern, am Jedersein, wollen nicht sehen, was kommt, wenn sie sich nicht mehr festhalten können, sondern stürzen und Niemand werden.
Jeder kann Niemand werden. Schnell, unberechenbar. Aber natürlich will Jeder kein Niemand werden. Wer will schon als Niemand neben Jedem existieren. Lauter Niemand!, ruft Jeder. Und versucht seinen Schatten zu fangen. Am Liebsten verspeisen, verdauen. Auf Nimmerwiedersehen! Aber Niemand stürzt sich an die Wand und wird Spiegel.
Lotta Blau, 09/21
Bild:free