Millionen Lichter
Welche Träume haben wir noch? Welche Sehnsüchte? Die Gedanken irren durch die Kopfstadt. Die Stunden sind ein Labyrinth geworden. Die Worte brennen sich zu Asche. Zuvor winken sie mit einem weißen Taschentuch. Aber ihr Winken wird niedergetrampelt. Die Callas singt. Ein letztes gelb gefärbtes Blatt am Baum vor meinem Fenster zittert sich Klang des Morgens. Drinnen singt die Oper, draußen das Requiem einer bösartigen Bodenlosigkeit. Die Noten steigen aus Dunklem auf. Ein Gemisch aus Regensonne fällt dem Tag in die Augen. Das weiße Taschentuch hat sich am Baum verhangen. Kein Windstoß trägt es weiter. Die Regentropfen fallen drauf, weichen es auf. Wolkenzüge durchfahren die Himmelgleise. Wohin geht die Fahrt? Hinter tausend Gitterstäben fault unser Geist. Die Füße wund vom Gleichschritt, das Herz soll im Gehorsamstakt schlagen. Liebe nur dem, der seine Freiheit enthaupten lässt, brüllt es durch die Gitter. Mensch nur als Beifall klatschender Automat. Gedankenuniformen zeigen mit den Fingern auf die Liebe. Doch egal, wie sehr man sie peinigt, sie ist unkäuflich, ungehorsam und es gelingt einfach nicht, sie zum Tier in faulen Kerkern zu machen. Selbst die entferntesten Liebenden lieben!
Ein seltsam schimmernder Vogel verschlingt das Taschentuch. Er beginnt zu singen, will die Callas mit ihrer samtraurigen Stimme ablösen. Sein Gesang klopft gegen die Türen und Fenster, prallt an Mauern ab und fällt ins Regenwasser. Fortgespült seine Hingabe. Sein Bemühen das Himmelsweinen aufzuhalten. Und dann holt er die Nacht heran. Land für Land zündet die Menschlichkeit ihre Lichter an. Der Vogel verschwindet. Zurück bleiben Millionen Lichter. Ein Weg durch die Finsternis, durch das Leid.
Bild und Text Lotta Blau, Nov.2021