Im U-Bahnhof stehen die Menschen in ihren Fragen. In ihren müde gewordenen Fragen.
Die Kälte zog sich durch seine Jacke. Blau war sie, die Jacke. So blau, wie der Winterhimmel. Wird kalt, sagen sie im Radio.Vielleicht kommt Schnee. Die Turnschuhe an den Seiten kaputt. Die Hose zerschlissen. Im Stoffbeutel ein paar Flaschen. Es roch nach Fremde, obwohl viele Menschen im U-Bahnhof standen. So viele Menschen und alle waren sich fremd. Sie blickten sich an. Standen sich gegenüber und sahen sich an, obwohl sie nichts sahen. Die Bahnen fuhren ein und aus, als wären sie das große Atmen dieser Stadt. Sie atmen zu schnell, viel zu schnell. Sie wollen die Zeit einholen, sie einsammeln. Als könnten sie das! Drei Jahre setzte sich das Stethoskop auf die Brust der Menschen. Es hörte die verschluckten Wörter. Die Bäuche quollen über davon. All diese Fragen, die die Treppen hoch schlichen, sich in die Augen buchstabierten: Sag, denkst du nicht auch so? Fühlst du es denn nicht auch? Kommen all die Schatten auch zu dir? Hörst du das auch? Hörst du sie? Wie sie sprechen und rufen: Hier bin ich! Sieh doch! Hier! Immer wenn eine Bahn einfuhr zog ein kalter Windhauch an den Menschen vorbei. Der spricht...der spricht mit ihnen: Hier! Ich bin es! Da werden die Hunde immer ganz nervös. Schauen verängstigt. Sie sehen sie vielleicht. Die Toten. All diese Toten. Diese Unschuldigen! Das sind die, die mit dir gehen. Tagein und tagaus. Sie folgen der Spur der Schuld. Aber ihre Körper, die sprechen mit der Erde. Mit der Erde im Mund.
Er schaute im Abfalleimer nach Flaschen. Beugte sich darüber, leuchtete mit einer Taschenlampe hinein. Nichts!, murmelte er.
Er tat mir leid, der alte Mann. Ich gab ihm bisschen Geld. So kamen wir ins Gespräch. Man müsse endlich wieder einmal eine Gedenkveranstaltung für Stauffenberg machen, sagte er. Dann erzählte er von Czernowitz, wie es früher einmal war. Erzählte von jüdischen Freunden und Bekannten, Familienmitgliedern. Wie sie gerettet wurden, damals. Sprach vom Stalin-Hitler-Pakt und einem verschwundenen Dokument, was heute noch geleugnet würde. Er erzählte viel in den wenigen Minuten, bis die nächste Bahn kam. Paul Celan, sagte ich. Den kennen Sie sicher? Ja, sagte er, ziemlich düstere Lyrik. Bei all dem, was er erlebt hatte, kann ich das verstehen, gab ich zurück. Frieden, sagte er...Frieden! Mein Gott!
Ich dachte an Oma Oleg und ihren Sohn, die ich einmal kennenlernte. Die sind schon vor Jahren weg. Niemand will uns, sagte der Sohn zu mir. Sie hatten Angst und sind weg. Sie hatten kein Geld und trotzdem brachte er mir immer, wenn wir uns begegneten, eine Mandarine oder einen Apfel mit. Niemand will uns. Sein Blick kehrte sich nach innen, als wolle er alles draußen aussperren. Wegfegen. Diese ganze schreckliche Flucht. Wenn ich heute an sie denke, wühlt ihre Geschichte mir immer noch im Bauch herum. Ich kann diesen entsetzlich traurigen Blick nicht vergessen.
Das Haar grau und zerwühlt, vom alten Mann. Irgendwie wackelte es unter der Mütze. Als hätte sein Kopf keinen Halt. Nur sein Geist, hochintelligent, setzte sich in die Bahnen und fuhr durch die Zeit. Immer diese Zeit. Ständig drängt sich etwas dazwischen. Etwas, was es eigentlich nicht gibt. Immer dieses Zwischen. All dieses Drängen. Dieses Bedrängen. All diese Verwaltung. Diese Schubkästen, die ihre Geräusche machen. Gut – böse – nützlich – nutzlos – alt – jung – arm – reich – krank – gesund – gehorsam – ungehorsam – danach entscheidet sich: Frieden oder Krieg. Registerleben. A bis Z. Nummer so und so und Nummer dies und das. Klack....da gehen die Schubläden auf. Klack, da gehen sie zu. Wie eine Stempeluhr. Soll erfüllt oder muss noch Leistung bringen. Und dann verschwinden die Menschen in ihnen.
Die Verwaltungswelt codiert heute die Menschen. In Register. Digital. Was das kostet.Strom, Energie und was das für Freiheit kostet. Die Flasche im Abfalleimer fünfundzwanzig oder fünfzehn Cent. Eine Flasche, eine Freude. Für einen Armen. Für die Armut. In Deutschland. Unter blauem Himmel. Winterhimmel wartet auf Sterne. Auch ein Leuchten im finsteren Schubkastenhimmel. Rote, blaue, bunte Leuchtreklamen. Was das kostet immer diese Sehnsüchte zu schüren. Diese falschen Sehnsüchte. Hinter dem Glas der Reklamekästen ist es hohl. Und es ist ein Rahmen ringsherum. Verwaltete Reklame für verwaltetes Leben.
Im U-Bahnhof stehen die Menschen in ihren Fragen. In ihren müde gewordenen Fragen. Sie steigen mit ihnen ein und steigen mit ihnen aus. Sie gehen mit ihnen heim und gehen mit ihnen schlafen. Sie liegen nachts neben ihnen auf den Kopfkissen und sehen zum aschgrauen Mond.
Geschichte, denk ich. Er hat bestimmt Geschichte studiert. Was war ihm passiert? Mit zwei Gehhilfen stand er da. Früher sagte man Krücken. Die eine Hüfte mache nicht mehr mit, die andere würde gerade auch anfangen, sagte er. Ja, Militärgeschichte hätte er studiert. Der Stauffenberg hätte beinah den Hitler erledigt. Beinah. So, wie der Elser. Beinah leider nur.
Lotta Blau/12/22