Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Gregor

Gregor schlug am Morgen die Bettdecke weg, blickte an sich hinunter...Nein, immer noch war er Mensch. Immer noch lag eine scheinbar unüberwindliche Strecke zwischen ihm und dem Großen. Jenem, welches die geballte Schnelligkeit betraf, diese Wucht, die immer wieder die Erde erbeben ließ und die Gesellschaft durcheinander wirbelte. Auch jenes, zu dem die Menschen aufschauten, wie auf eine riesige Tafel, die zu ihnen sprach und auf der die Gesichter der Oberen auf sie hinunter schaute. Sie da unten hielten denen da oben ihre gefüllten Handflächen hin, in denen ihr letztes Hab und Gut zur Übereignung lag oder auch die letzte Scheibe Brot. Dabei knieten sie und wagten nicht ihre Blicke von denen auf sie Einredeten abzuwenden. Sie waren glücklich das zu tun.

Gregor verstand das nicht. Diese Menschen verhielten sich selbst wie eine Opfergabe. Zumal sie noch nicht einmal angelogen wurden. Nein, ganz und gar ehrlich wurde ihnen gesagt, für was all die Gaben bestimmt waren. Mal war es die Bank, dann wieder ein anderes Würfelsystem, dann wieder ein Krieg oder einfach, weil mal wieder die Götter der Zahl friedlich gestimmt werden müssten. Nur wer genug abgibt, dürfe auf eine gute und hohe Zahl hoffen. Es käme nur auf die Höhe der Spenden an, ob das Land überleben könnte, oder nicht. Abhängig vom Ergebnis der gewürfelten Zahl. Im Grunde aber wusste jeder, dass das nicht stimmte und die Regierenden die Zahl immer wieder niedrig hielten, damit die Menschen weiter von unten nach oben abgaben. Und nicht müde dessen wurden, oder gar aufmüpfig. Wer sich weigerte, dem drohte der Ausschluss und er musste fortan sein Leben außerhalb des Systems vollbringen. Ja, den ein oder anderen hatten sie schon verbannt oder sie waren von allein geflüchtet. Um glaubhaft diese Schande darzustellen, belegten sie die Welt da draußen mit vielen Erzählungen, voll mit Furchtbarem. Da draußen, sagten sie, würde jeder innerhalb ein paar Wochen verhungern oder verdursten. Manche wären direkt irre geworden. Es wäre aber nicht schade um sie, denn sie wären ja zu nichts mehr nütze. Sogar gefährlich wären sie und geistig ganz ferne Kreaturen, die den Würfel zerstören wollen und damit die Existenz des Systems. Diese Abtrünnigen sagen, dass wir lügen und euch berauben. Sie wollen Götter sein, aber wir allein sind das! Wir allein wissen, was die Wahrheit ist. Zeigt mit den Fingern auf sie!

Gregor war so ein Fall. Er bewegte sich geistig gern fern vom System, schwankte aber dennoch und suchte immer wieder nach ein paar Tagen der Abwesenheit die Mitte.

Ausgeschlossen!, rief eine Stimme immer wieder. Sie klang mehrstimmig, ja beinah sogar wie mehrere Orchester zusammen. Wirr und unsagbar laut dröhnte es aus dem Inneren des geschlossenen Würfels. Die Eingänge waren von innen vermauert. Früher einmal konnte man ein und aus gehen. Sich entfernen. Es gab eine Zeit, da klang die Musik all der Menschenstimmen noch nach einer Sehnsucht. Nach Rufen zur Liebe und dem Leben. Die letzten Jahre allerdings schlich sich immer mehr die Disharmonie ein. Das Gleichgewicht zwischen Ordnung und Chaos verlor sich immer mehr. Es brodelte und kochte inzwischen ein Vulkan zwischen den Zahlen. In der Politik gibt es keine Zufälle. Niemand kann die Gegenwart und die Zukunft würfeln. Niemand tut das und erst recht kann sich keiner als Gott selbst fühlen, obwohl es seit Bestehen der Menschheit immer einige taten. Göttlich ist das Gewissen und jene, die eine Ameise mehr schätzen, als all die Götzenbilder der Jahrtausende. Sie sagen nur immer: Das wäre Zufall! Ganz überraschend...wäre es so gekommen. Doch die Zahlen der Würfel beruhten auf Berechnungen, auf Kraft des Wurfes und also der Geschwindigkeit ebenso, wie dem Raum-Zeit-Gefüge. Und selbstverständlich auch auf Reibung und dem  physikalischen  Zusammenspiel überhaupt. Nur Gott allein weiß, ob er Zufälle würfeln kann. Ob es ihn gibt? Wer weiß das schon? Ist er bewiesen oder widerlegt? Nein? Dann kann beides nicht ausgeschlossen werden. Ein gerechteres nach Frieden strebendes Würfelsystem hat es nicht nötig mit Angst, unsinnigen Strafen, mit Kriegspropaganda oder Verfolgung von demokratischen Kritikern zu agieren! Und wäre wohl auch nicht dazu fähig, zu nötigen oder unterdrücken. Gar Lügen als Wahrheiten zu verkaufen. Eine nach Frieden strebende Politik sowohl im Großen auch im Kleinen, im Zwischenmenschlichen, der Gesellschaft, würde die Menschen ermutigen ihre Freiheiten und Rechte zu verteidigen. Sie würde nicht gegen die Gleichheit aller Menschen arbeiten, sondern für.

Die Köpfe der Menschen wurden mit Schlagwörtern wund geschlagen. Die Herzen begannen durch Verletzungen zu splittern. Das Licht in ihnen schlürfte sich durch die Wunden. Jeder meinte die Anderen zu kennen, doch niemand kann das. Allerhöchstens kann man einen anderen Menschen erkennen. Aber kennen? Wie soll das denn gehen, wenn sich jeder doch bis zum Tod selbst kennenlernen muss. Wie oft reisen die Gedanken ins innere Unbekannte? Jenes, welches sich so oft entzieht und von dem wir immer nur ahnen können. Welche Macht es hat und wie es uns wie ein Zauberlehrling umgarnt. Was wissen wir schon von anderen? Wir legen uns selbst auf ihre Schatten und wollen ihr Licht fangen. „Und nun sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben.“ Und die Geister, die sie riefen, wurden sie nicht mehr los. Das Ganze hat ja durchaus auch eine politische momentane Aussage. Das undefinierbare nicht zu greifende Ende, das Chaos...aber irgendwann wird sich eben darum wieder eine gewisse Ordnung herstellen, ob die Obertanen das wollen oder nicht. Denn wer mit dem Chaos spielt, der hat es nicht verstanden...Das Chaos, welches erzeugt wurde bewirkt eine Gegenkraft, eine Reibung, einen Widerstand. Denn das Chaos lebt seine eigene Harmonie und bedeutet Leben. Diese politische angestrebte Ordnung aber, die mehr einer Herrschaft ist, ist kein Bestandteil der natürlichen Gesetze, von Anziehung und Abstoßung, sondern ein fehlerhaftes Element. Wer mit dem Chaos spielt, will Gott spielen und wird dieses Spiel verlieren!

Gregor versuchte lange, nachdem er sich manchmal tagelang außerhalb des Würfels aufhielt, einen Eingang zu finden. Zurück in die Mitte. Doch er fand keinen mehr. Er klopfte ein paar Mal an die verschlossenen Türen, doch niemand öffnete ihm. Zweimal antwortete jemand von innen: Ausgeschlossen! Er dachte an Zirkaden. Zirkaden setzen gezielt Informationen in Form von Klopfzeichen auf Pflanzen ab. Die Pflanze speichert diese und nur eine andere Zirkade kann jene Klopfzeichen „entschlüsseln und lesen“ Vielleicht sollte er sich doch eher wünschen, als Zirkade aufzuwachen.

Er fühlte sich, wie der Käfer von Kafka. Ja, er selbst nannte sich Gregor, denn eigentlich hieß er Hannes, Hannes Stückpolt um genau zu sein. Wie oft wünschte er sich morgens als dieses Insekt aufzuwachen, um dann unbemerkt wieder in den Würfel zu krabbeln. Eine winzig kleine Öffnung würde dafür ausreichen, denn er würde im Gegensatz zu Kafkas Käfer sich doch eher wünschen winzig zu sein. Niemand würde sich um ein Insekt scheren. Er könnte die Welt von innen wieder erleben und gleichzeitig, wenn es ihm beliebt, wieder ins Abseits gehen. Aber nun schien es doch endgültig zu sein. Er musste draußen bleiben. Morgen würden wieder die Würfel fallen dröhnte es von der Tafel. Spendet, opfert...Es gibt keine Zufälle, brüllte es auf die Menschen ein. Der Würfel wird euren Gehorsam belohnen! Alles hängt nur von euch ab, wie ihr an uns und die Zahl glaubt.Möglicherweise, schallte es von der Tafel, würde es aber auch bald etwas völlig Neues geben. Etwa ein Schachspiel.

Gregor schaute zum Himmel. Vor ein paar Tagen zogen hunderte Kraniche über seinen Kopf Richtung Süden. Immer wieder kamen weitere hinzu. Ihr Rufen klang durch den Nachmittag. Nun sah er einen dieser Vögel ganz allein. Ein Nachzügler. Ob er es schaffen würde? Er flog sehr tief und schien wenig Kraft zu haben. Offensichtlich hatte er den Anschluss verpasst, war nun ganz allein und auf sich gestellt, so wie Gregor.
Eine morgens, Gregor wachte in seiner spärlichen und mit altem Holz zusammengezimmerten Unterkunft auf. Er schlug, wie immer, die Bettdecke weg und staunte. Nicht Käfer war er. Flügel hatte er, einen Schnabel...er war ein Kranich geworden. Er stürzte nach draußen, rannte und hob ab. Richtung Süden...ganz allein.

Unter ihm explodierte der Würfel. Das Chaos hatte ihn gesprengt. Die Zahlen flogen nur so umher. Keine Zahl ist nur eine Zahl...

Lotta Blau, 11/22

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