Fieberwelten (Auszug)
Sie waren überzeugt davon, es müsse möglich sein, das bessere Leben. P. kam grün und blau geschlagen zurück. Man hatte ihn festgenommen. Seine Akte war dick. Sie prügelten unter der Lampe, die ihr grelles Licht dabei auf sein Gesicht warf. Später zerrte man von Demos auf Lkws, lockerte die Hundeleinen. Pinkeln nur unter Bewachung. Bewachtes Strafsitzen über Nacht, essen und trinken verboten. Wandaufstellung im Gang, als würde man auf seine Erschießung warten. Schreie, dann prügelten sie einen vor den Verhafteten weiter. Zum Zusehen gezwungen. Trauma... Diese friedliche Revolution war keine, sie war und ist eine große Lüge, ein verfälschter Kotzhaufen, den man zum Diamanten erhob.
Die Elbe würgte stinkend Jahrzehnte die Toten und Unglücklichen an die Ufer. Sie hatten sich tausende Male immer wieder gedanklich ins Wasser gestürzt. Das Unrecht wälzte sich in den Strudeln des Wassers und verschluckte die Brüder zur Sonne, zur Freiheit. Das stinkende System, das sich den Missbrauch des Sozialismus zu eigen gemacht hatte, bereicherte sich am Menschenhandel auf der Potsdamer Brücke, an Zerbrochenen, am verordneten Schweigen, am Hinnehmen, am Rassismus und am Antisemitismus. Der freie Geist zensiert, nach Belieben und passend umstilisiert, manisch mal mit Zuckerbrot und dann mit Peitsche, krankhaft, paranoid. Geheime Keller, in denen gemordet wurde. Faschismus im Lackmantel des Klassenkampfes, der sich ein Spinnennetz der Täuschung gewebt hatte, das seine Fäden in jede Zunge bohrte. Bei der geringsten abweichenden Bewegung schnappte die Spinne zu, umwickelte die Zunge, webte den Mund zu und fraß sie je nach Hunger und Belieben auf. Bis heute gibt es viele Münder ohne Zungen. Stumme Leidende. Das Trauma hat ihnen erneut Mauern gespendet. Jagdreviere mit vorgeführten Opfern. Bedeutungslos gestempelte und verfolgte Grüne, zerstörte Kindheiten in Heimen. Denunzianten und Spitzelgesellschaft.
Die Menschen schaufelten schon viel zu lange ihre Herzen mit Schwärze zu. Die Kerne verbitterten. Die Süße des Daseins pellte sich von ihnen ab. Wie von einer überreifen Frucht fielen die Schalen beinah von allein ab und blieben am Boden unter ihren Füßen liegen. Es entstand eine Mischung aus übelriechenden Kernen und einem leicht modrig, aber noch fruchtig, herben Geruch, der sich durch die Gesellschaft zog. Manche mochten diesen Duft, anderen wurde davon übel. Jene, die ihn mochten erinnerten sich an ihre Träume, während die anderen sich davor fürchteten.
Undurchsichtige Nebelschwaden hingen über den Feldern und Dächern. Sie schienen festgeklammert an Schornsteinen und vergilbte Kornstoppeln. Ihre Undurchsichtigkeit wuschen sie über die Fenster. In Rinnsalen krochen die Schleier wieder hinunter und schlichen an den Mauern entlang. Umwickelten die Wenigen, die gerade unterwegs waren. Die sich trauten und dieser Nebelzeit trotzen wollten. Ackerschollen, vom Schnee der letzten Nacht befriedet, setzten ihre Sprache über sie. Sie zwangen Stille in den Morgen und doch war alles laut, ja brüllend. Tonstürme flatterten aus den Kernen der Menschen heraus. Sie spielten altbekannte Lieder der Freiheit und sprachen Mahnungen, wie ein Gebet murmelnd, monoton herunter. Tausende unsichtbare Bücher schütteten ihre Wortsamen über die Erde. Ihr Nachgeborenen! - Bekam eine Blüte. Oftmals ein Zeichen eines letzten Aufbegehrens einer Pflanze. Ein letztes Mal Schönheit, ein letztes Mal aufstehen des Lebens Willens. Ein letztes Mal Kraft. Das Aufbegehren zitterte durch ihre Knie. Wir sind doch...wir müssen doch...wir sollten unbedingt! Es ist Zeit, begann die Turmuhr zu singen. Irgendwann wird es sonst keine Zeiger mehr geben, denn irgendwann werden sie zu Boden fallen und verschwinden. Die Welt ist schon fiebrig. Die Bäume tragen Fieberblasen. Die Heuschrecken fressen das Menschsein kahl, wie einst den Osten.
Fieberwelt. Sie kocht vor sich hin und phantasiert Übles. Wir müssten es bei jedem Schritt merken, den wir auf den Boden setzen. Durch die Schuhsohlen brennt diese Hitze bis zum nackten Fleisch. Sie wollten Retter sein. Es musste doch irgendwie gehen. Fensterstürze da, vom Zug überrollt dort...Berufs- oder Ausbildungsverbot da. Spießigkeit überall. Wie unter Hitler waren lange Haare als asozial bezeichnet. Auffälliger Kleidungsstil vermerkt. Jedes Anderssein, jedes nicht Passende untersagt, jedes Wort, jeder Brief unterlag dieser Dummheit die Chance gehabt zu haben eine bessere Welt zu schaffen. Sie hatten sie eigennützig benutzt, diese Chance, also dachten sie, sie könnten es ändern. Raus aus dem stupiden Gleichschritt, aus dem stagnierten Starren, aus dem devoten Anerzogenen. In ihnen brodelte die Hoffnung.
Niemand von ihnen, ihrer Gruppe, wollte die Bluthunde des Kapitalismus am Herzen haben. Sie glaubten an eine innere Revolution. Die Liebe dazu hielt sie zusammen und es kam doch die Unerfahrenheit zugute. Sie waren ja noch beinah Kinder. So jung und sie hatten Träume.
Manche Gräber besucht man nie. Sie verlieren ihre Messer nicht, die einem immer wieder erneut ins Herz stechen, es schlachten, es ausbluten...Sie hatte ihn geliebt und er wurde Staub mit Erde vermischt, die ihn unter die Räder auf die Gleise trieb. Ihr stocken noch heute die Worte und beim Schreiben schürft sie sich die Stirn an der Mauer blutig.
Sie hatten genügend Gedankenfaschismus durch die Jahrzehnte in Lackmänteln, die allesamt Trümmer hinterließen. Erster Weltkrieg, zweiter Weltkrieg, Gedankenkriege, Herzkriege, Spinnenkriege. Der eine beendet, der andere beginnend. Mörderpuppen, die Angst verbreiten, die am hellen Tag mit Blut an den Händen ihre einstigen Taten zur Sonne erheben und die Götter stürzen wollen. Zwielichtige Gehirne, gespaltene Persönlichkeiten, die vorgeben Normalität zu leben. Nun farblose Lackmäntel, gewandelt nach den Kriegen, nach den Morden. Weltverstreut, die Viren, die die Erde und die Geschichte fiebern lässt.
Jetzt hängen wir schon wieder am Lackzipfel. Braun gefärbt. Grenzenlose Überwachung, keine Luft zum Atmen, Zensur, Kritikausschaltung, Gleichschaltung der Presse...macht Würgemal am Hals und Schlachtfeste der Herzen. Vom Finsterland - zum Wandelland- Nebelhand - gekreuzigte Zungen lang. Fieberland- Fieberwelt.
Die weiße Lilie fieberte in ihr.
Lotta Blau, 2021
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