Ein kleiner Zettel
Aruschka ging. Ich wusste nicht wohin, wünschte ihm aber alles Gute, als wir uns verabschiedeten. Satt hätte er diesen ganzen Zirkus, diese Tage, da einem das Zählen der Schritte immer schwerer fiel. Fünftausend Schritte zu Abend, siebentausend bis zur Nacht. Der Schrittzähler im Kopf ist nun rostig und müde, sagte Aruschka. Als er mir in der Bahn gegenüber saß, telefonierte er beinah die ganzen zehn Stunden hindurch. Dann vergaß er auszusteigen vor lauter reden. Er hätte in Nürnberg umsteigen müssen. Wolle nach Düsseldorf. Nicht schlimm, sagte ich. Ich will auch dahin. Er könne sowieso hinfahren wohin er wolle, meinte er. So sei es sogar besser. Aufgeregt war er trotzdem, auch wenn er versuchte es zu verbergen. Nicht alles, was er sagte, verstand ich. Er sprach gebrochen deutsch. Zwanzig Kinder? Ach, was, dachte ich. Er hatte lange Beine. Seine und meine suchten irgendwie einen entspannten Platz zu finden. Immer darauf bedacht den anderen nicht zu berühren. Seinen schönen, grauen Anzug.
Draußen rauschte die Welt vorbei, als wäre sie eine Filmrolle im Kino. Die Bäume und Häuser zog die Differenz von Stillstand und Geschwindigkeit in die Länge. Verwischte die Konturen, als würde man Farben mit dem Pinsel in eine Richtung ziehen.
Ich schrieb auf der Hinfahrt an meinem zweiten Teil der Möwe Andersstern. Ich war so darin verhangen, dass, als ich gefragt wurde, ob ich was essen oder trinken möchte, antwortete: Eine Milchkaffee ohne Milch, bitte. Worüber wir, der Zugbedienstete und ich, uns sogleich amüsierten. Ich nahm dann einen Kaffee, schwarz. Das erste Buch über die Möwe sei Weltliteratur, wurde mir gesagt. „Schreib unbedingt einen zweiten Teil.“ Ist Freude auch Eitelkeit? Vielleicht. Ich gebe zu, ich bin in gewissen Dingen eitel, in anderen nicht, denn in einigen Dingen würde ich es eher als mir selbst Wert bezeichnen. Das bin ich mir selbst wert. Eine ganze Reihe soll ich bitte über die Möwe Andersstern schreiben. Gab sogar die Idee und Nachfrage einer Verfilmung, die aber an wichtigen Punkten scheiterte. Manche inspirierte mein Buch sogar eine daran angelehnte eigene Geschichte zu schreiben. Großartig!
Haben Sie schon einmal einen Zettel, vom Wind getrieben, beobachtet und sich gefragt, was darauf wohl gestanden haben mag, wer ihn beschriftet hatte oder ob er vielleicht leer war? Epiktet erklärte, grob umfasst: Was man ändern kann, das versuche, was nicht, das lass los. Zu oft versuchen wir unsere Energie in Dinge zu setzen, die nicht in unserer Macht stehen, statt sich auf das Änderbare zu konzentrieren. Sicher, ich hätte gerne gewusst, was auf jenem Zettel stand, es hatte so etwas Melancholisches, doch der Herbstwind wehte ihn unter eine Bahn. Die fuhr los und riss den Zettel mit. So blieben übrig: die Vorstellung, der Wunsch und die Phantasie. Etwas, was sich nie erfüllen wird, füllt die Kreativität auf. So werde ich jenen Zettel in die Möwenfortsetzung einarbeiten und die Möwe wird diesmal wieder in die Tiefen ihres Ichs vordringen, Abenteuer erleben und neue Freunde gewinnen. Sie wird Fragen an das Leben haben und es ist ganz gleich, wie alt jemand ist. Die Fragen nämlich, die hören nie auf, denn alles agiert miteinander und jeden Tag müssen wir zwischen Geist und Herz immer wieder ausbalancieren, wobei eines stets die Oberhand haben will.
So sehe ich jeden Tag die Möwen morgens und abends, wenn sie heimkehren, am Himmel kreisen und höre ihre Rufe, die beinah wie die eines kreisenden Adlers klingen. Ich denke an den kleinen Jungen von der Müllhalde und wie die Möwe Andersstern ihm zusammen mit einem ausgerissenen Hund zu einem besseren Leben verhalfen und das Baumhaus mit der verletzten Taube, an die gütigen Menschen oder den alten Mann, der die verletzte Möwe gesund pflegte. Ich denke an die große Liebe des alten Mannes und das Meer und die Frage, die er immer wieder stellte: Was ist mit ihr damals geschehen? Wie sie sich nach so vielen Jahren doch wiederfanden, sich gegenseitig auf die Schultern weinten und sich noch immer liebten, wie am ersten Tag.
Und während ich das hier schreibe, da kriecht Wehmut durch mich. Die Wünsche der Welt würden auf einen kleinen Zettel passen, vom Wind in die Ferne getrieben, von einem Ort zum anderen. Die Menschen würden seine Botschaft lesen können und würden sich ihrer großen Chance des Lebens bewusst werden.
Bild i have a dream und Text Lotta Blau/ 2025