Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Die nackte Welt


Es gibt Bücher, die Schulstoff sein müssten. Zum Beispiel UNTER PALMEN AUS STAHL von Dominik Bloh. Er schrieb über die Zeit seiner Obdachlosigkeit. Hautnah und ungeschönt. Wussten Sie, dass es für die Menschen auf der Strasse schwieriger ist im Sommer zu überleben? Ich auch nicht. Ich dachte immer, gerade im Sommer kann niemand erfrieren. Stimmt auch, nur sind die Obdachlosen gerade im Sommer noch schutzloser der Gewalt, Pöbeleien und vor allem auch der Sonne ausgesetzt. Kaum einer dieser Menschen besitzt Sonnenschutz, darum, so lernte ich es aus Blohs Buch, tragen sie auch im Sommer ihre Winterklamotten, um ihre durch das Straßenleben angegriffene Haut vor der UV-Strahlung zu schützen. Das führt dazu, dass sie umso mehr schwitzen, und da die Wenigsten drei Euro für den Waschsalon aufbringen können, riecht die Kleidung schon bald. Im Sommer werden Obdachlose oftmals vor Einkaufspassagen vertrieben oder auch von anderen Plätzen. Auch nachzulesen in der Obdachlosenzeitung fiftyfifty. Im Winter werden von den Städten Notunterkünfte gestellt. Da fällt die Suche nach einem sicheren Schlafplatz weg. Außerdem gibt es dann ein WC und eine Dusche und vor allem ein Bett.

Dieses Buch zeigt auch ganz deutlich auf, wie es passieren kann, dass ein junger Mensch auf der Strasse landet. Ich muss gestehen, mich hat dieses Buch viel gelehrt, einiges wusste ich, da ich mich manchmal mit Obdachlosen unterhalte, vieles jedoch weiß ich nun durch Bloh. Mir war und ist immer bewusst, wenn ich den leeren Händen und Mägen etwas Geld gebe, dass dann der ein oder andere Euro in Alkohol oder Drogen fließt, aber ich sehe es immer so, dass ich nicht berechtigt bin darüber zu urteilen, wie sich ein Mensch das Leben auf der Strasse erträglicher machen kann. Sich zu retten versucht,fern der Realität, vergessen will, die Kälte der Blicke, die schlimmen Worte oder die ganz eigene Geschichte. Über den Hunger und die eisige Kälte mit Hilfe von Alkohol Vergessen sucht.

Mich hat dieses Buch an vielen Stellen erschüttert, vor allem, da von der Gewalt gegen diese Menschen berichtet wird. Die Angst in einem Zelt zu schlafen, weil täglich mit Gewalt zu rechnen ist. Wer keinen Schlafsack hat und auf der Strasse lebt, der kann kaum überleben, so Bloh. Ich erinnerte mich an den Morgen, als ich Lenni und seiner Frau zwei Schlafsäcke schenkte, die hatte ich mir selbst einmal für kommende Wanderungen gekauft. Er nahm sie entgegen. Die sind ja neu, sagte er mit großen Augen. Klar, sagte ich und die haben eine spezielle Wärmefunktion. Wird ja bald kälter. Ja, meinte er, die schon mal verteilt würden, wären immer alle gebraucht und zu dünn. Bisschen Freude an einem Herbsttag für diese zwei Menschen. Gern geschehen! Man muss natürlich immer auch seine eigenen Grenzen beim Geben kennen. Das ist wichtig. Die ganze Welt kann niemand retten, plump gesagt.
Es ist eine Parallelwelt, die sich öffnet und doch als würde es nur eine Schicht, eine Haut sein, die hindurch schimmert. Das Leben auf der Strasse ist sichtbar und doch hat es viele unsichtbare Schichten. Überleben von einem Tag zum nächsten. Nur darum geht es. Da können fünfzig Cent oder ein Euro entscheidend sein.

Kürzlich sah ich eine alte Frau in einer Ecke einer Wartehalle liegen. Ich dachte erst sie sei tot. Die Wangen eingefallen, dünner, ausgemergelter Körper, aschfahles Gesicht. So lag sie auf dem Boden, im Herbst. Ringsherum hatte sie sich aus einem Einkaufswagen und ein paar Kleidungsstücken eine Wand geschaffen. Alle haben es sehr schwer auf der Strasse zu überleben, aber Frauen besonders. Ich las davon in Blohs Buch, wie gefährlich es für sie ist und was er beobachtete.

Dominik Bloh lebt heute nicht mehr auf der Strasse. Obwohl er ganz unten war und nichts hatte, hat er dennoch anderen geholfen, hat sich für andere eingesetzt, hat mit angepackt, hat Flüchtlingen geholfen sich in einer für sie fremden Welt mit fremder Sprache zurechtzufinden. Dann wurde ihm geholfen. Heute lebt er in einer Wohnung.

Die Armen, Ärmsten und die Schwachen sind es, die mich lehren. Ja, es gibt einen Unterschied zwischen Armen und Ärmsten. Es sind nicht die Starken, die angeblich Vollkommenen, die es nicht gibt, sondern jene, die das Leben von unten gesehen haben, die damit an unser Mitgefühl, Menschlichkeit und unsere Aufmerksamkeit appellieren, die unsere Welt im Kopf und im Herzen öffnen können, die uns den gesellschaftlichen Spiegel vorhalten und damit jeden Tag warnen. Die fehlerhafte politische und rechtliche Entscheidungen aufzeigen.

Sie sind es, die den heutigen Zustand einer Gesellschaft entblößen und uns ihre Nacktheit entgegenhalten.

Wie schrieb ich einmal: Die Welt zeigte sich nackt und alle schauten beschämt weg.

Lotta Blau/2024