Die Wortwand
Die Gewissen hat sich auf seinen Stuhl gesetzt. Es hat einen Spiegel in den Händen, der blind geworden zu sein scheint.Patina in Form von schwarzen Mohnblumen hat sich auf ihm gebildet. Darauf gefrorene Jahreszahlen, seit Anbeginn.Immer Punkt Zwölf beginnen sie für fünf Minuten zu schweigen.Jahr um Jahr.
Sein Blick ist auf eine Wand gerichtet, die begonnen hat sich zu schälen. Millimeter für Millimeter. Das erste Wort der Menschheit fällt zu Boden. Der erste Laut aus Menschenmund läuft wie ein Aderrauschen hinab. Aus der anderen Ecke bildet sich eine Symbiose zwischen Wand, Wort und Ur-laut aus einem bleichen Himmels-Ahnen mit einem sezierten Herzen. Gut freigelegte Kammern und Gefäße. Sie ist zu voll geworden, die Wand und zu unhaltbar. Zu viele Worte über die Jahrtausende. Manche versuchen sich zu umarmen, während sie im freien Fall die Atemräume berühren. Atem, der sie einst aus sich presste. Manche schleifen sich zum Licht, andere kriechen stöhnend ins Dunkle und andere erbrechen ihr Innerstes aus ihren Hülsen, bäumen sich kurz auf und zerfallen dann zu Staub.
Die Wortwand wird dünner und dünner. Ihre Substanz verliert sich mit jedem fallenden Wort. Seit dem letzten Krieg hatten sie sich mühsam auf die Oberfläche der Wand geschrieben. Sie wollten nicht aufgeben. Verletzt, manche Buchstaben aus ihnen waren benutzt und geschändet worden, andere retteten sich mühsam und unter Qual unter den Trümmern der Menschlichkeit hervor, wieder andere hatte man an die Wand gestellt und erschossen. Doch sie erstanden auf. Nahmen ihr blutiges Leichentuch, bedeckten ihr Gesicht damit und beschworen sich untereinander zur Mahnung und zum Trotz. Blutverschmiert stehen sie seitdem an der Wand. Jeder konnte sie so sehen. Hatten das Gemäuer mit Vorsätzen, Schwüren, mit Vorsicht, mit Bedauern und Liebe, Abkehr von Grausamkeiten beschriftet. Hatten das innere Stahlgerüst der Wand umklammert und trotzdem sich immer wieder Rost an ihm bildete, hielten sie an ihm fest. Manche Worte litten dabei unsäglich. Denn die stählerne Kälte bildete Kreuze, die sich in sie bohrte. Dann der ewige Frost, der sie aus der Vergangenheit peitschte. Tag für Tag. Schatten der Verbrechen, die quälten und töteten. Manche Worte verhielten sich über die Jahrtausende still, sie schwiegen, trotzdem sie innerlich bebten und zitterten. Ihre Angst unterdrückte sie, andere bildeten mit der Zeit Gefäße. Ein Geflecht, wie ein Mutterkuchen mit Nabelschnur, nahm sie in sich auf und nährte sie. Wartend auf die Geburt. Den ersten Atemzug. Sie wuchsen und formten sich zu einem Wort, einem Klang einer besseren Zeit, einer Utopie, die aus sich selbst erstanden ist. Der Mensch muss in sich selbst auferstehen. Das ist wirklicher Anarchismus. Ganz befreit, ganz losgelöst aus Zwängen, ganz Selbst, bis zum Nanomoment des Jetzt. Das Gesetz des Selbst ist universell und formt daraus entstanden das gesunde Vernünftige. Erst Sinne, dann Logik und Kopf. Zusammenspiel, das sich zusammenfindet. Sinn... Aus Wünschen, aus Trauer, aus Liebe, aus Unrecht und dem Schrei nach Leben und dem Blutnetz, in dem alles Geborene, alles Entstandene miteinander Eines ist.
Du bist doch der Baum in mir, du bist der Vogel und du das Sonnenmeer, rotgespiegelt, spricht der Stern, der gerade erlischt und sich in eine weitere Seite des Buches übergibt. Die Erschaffung deiner Selbst ist die Erschaffung der Welt und diese erschafft ihr Selbst genauso in dir. Koppelungen eines kosmischen Windes, der Staubkörner in die Sinne weht.Und den Worten ihre Kleider anzieht. Eins spricht sich ununterbrochen von der Wand hinab. Laut, leise, wimmernd, lachend, weinend manchmal albern. Liebe.
Ihr Kokon an der Wand webt Fäden des Widerstands.Das Garn verstrickt sich in das Gewissen und wirft das Netz über den schwarzen Mohn auf den Spiegel.
Ich spüre dich in deiner Liebe, in deiner beinah berauschenden Gefühlsbalance zwischen Realität und Traum. Nicht zu nahe, spüre ich aus dir. Da ist die Wand im Zwischen. Da ist das Verletzte deines Kokons. Meine Haut stellt Sensoren zu dir auf,spricht das Wort Stille, als es klirrend auf den Boden fällt. Es ist ihm zu laut geworden. Die Stille in ihm ist abgestorben. Lärm, permanent. Tag und Nacht dröhnt wild gewordene Sprache zu ihm. Keine Eckenflucht, kein Sekundenfiebern nach dem inneren Sprachhaus konnte ihm helfen. Klagelieder: Mensch, was tust du? Was tatest du? Was wirst du tun?
Mensch heißt Beginn.Immer wieder. Beginnst du Liebe, beginnst du den anderen Aug-Apfel zu küssen, beginnst du Hass, beginnst du Faust? Verrat oder Gerüstabbau in dir, bis du zusammenbrichst? Die Worte fallen durcheinander. Sonne fällt auf das Gewissen. Poliert den Spiegel. Legt offen, sät Licht aus. Zeugt Ekstase und Lust. Zimmert einen Apfelbaum in die fallende Wand.
Bild und Text Lotta Blau, 2021