Die Ratte oder die Macht der Vorurteile
Die Stufen des Bahnhofes waren übersät mit Müll und Scherben. Es war überhaupt der schmutzigste Bahnhof, den ich je sah. Schon wenn man von der Straße die Ampel überquerte, um die Ecke bog und Richtung Brücke ging, von der die Stufen zum Steig führten, dann zeigte sich der Schmutz und roch man diesen Bahnhof. Es war um die Mittagszeit, als ich dort die Stufen zum Bahnsteig hochging. Ich blickte nicht gleich von unten nach oben - zum Ausgang, sondern hielt meinen Kopf leicht gesenkt. Mein Wanderrucksack tat seines dazu, denn er wog einiges auf meinem Rücken, obwohl ich ihn nicht einmal vollgepackt hatte.
Genau weiß ich nicht warum, jedoch mit einem Mal sah ich hoch. Ich traute meinen Augen nicht...niemand wird mir das glauben und ich ärgerte mich darüber, dass ich vor lauter innerer Anspannung vergaß dies zu fotografieren.
Wie ein Mensch nahm eine Ratte die Treppen. Dieses Tier war wie ein kleiner Hund so groß. Nun schritt sie die Stufen hoch und zwar sehr langsam und bedächtig. Fast so, wie ein Weiser. Manchmal blieb sie einfach stehen. Hielt kurz inne - schaute mich an und ging dann die nächste Stufe hoch. Dies alles spielte sich in einem Zeitlupentempo ab. Ratten sind sehr intelligent, sagte ich mir. Diese hier jedenfalls strahlte das aus.
Vorbei wollte ich nicht an ihr. Vorurteile kamen in mir hoch...Was wenn sie sich erschrecken würde, um sich beißt deswegen oder mir ihre Krallen in eines meiner Beine schob? Sie waren gut zu sehen und nicht gerade klein. Krankheiten könnte sie mir einbringen. Alle möglichen Bilder hatte ich im Kopf. Sogar die Pest und die Pestmasken. Totenberge hatte ich vor Augen. Ein ganzes Bilderbuch öffnete sich, was alles passieren könnte. Selbst Wolfgang Borchert mit seinem Text „Nachts schlafen die Ratten doch“ fiel mir ein, obwohl es ja Tag war.
Da waren sie also...Vorurteile. Zwischendurch sagte ich mir selbst, ich solle mich nicht so anstellen.
Ich schwitzte...womöglich verpasste ich wegen der Ratte noch meine Bahn und damit meinen weiteren Anschluss nach Wien.
Sie war alt, die Ratte. Neben dem, das sie so groß war, sah ich ihr an, dass sie in ihren letzten Lebenszügen lag. Ihr Fell war wie bei einem Hund aussagekräftig für ihr Alter.
Nie werde ich ihre Augen vergessen, die mich ansahen. Die so schön waren, trotz sie eine Ratte des stinkenden Bahnhofes war. Dunkle Diamanten, die mich immer wieder fixierten.
Nach gefühlten Stunden war sie endlich oben. Stufe für Stufe bin ich ihr in ihrem Tempo gefolgt. Blieb immer hinter ihr. Dann kam sie oben an und verschwand durch ein Schlupfloch der Seitenbrüstung.
An diesem Schlupfloch musste ich vorbei. Ich tat es sehr andächtig, denn ich würde diese seltsame und innerlich lehrreiche Begegnung mit der Ratte nie wieder erleben.
Einige Zeit später, ich war längst zurück von dieser Reise, fuhr ich abermals von diesem Bahnhof Richtung Essen. Es waren nicht gerade wenige Menschen, die auf die Bahn warteten, als plötzlich aus dem Gebüsch hinter der Brüstung viele Ratten, diesmal in normaler Größe, wie man sie eben kennt, auftauchten. Richtung Menschen liefen sie, kurz davor stockten und wieder im Gebüsch verschwanden. Manche Menschen erstarrten, andere stellten sich entsetzt und überrascht an den Rand des Gleises. Es dauerte gefühlt nur ein paar Sekunden, aber niemals werd ich das vergessen.
Es war so surreal und beinah unheimlich.
Lotta Blau/2017