Brennende Orgelpfeifen
Ich bin matt, sagte sie mit kratziger Stimme ins Telefon. Ich habe zu wenig Kunst und zu wenig Literatur gegessen. Grundnahrungsmittel, sagte sie. Ich habe so abgenommen. Ich bin mager geworden, weil ich keine Bedeutung mehr kaue. Süchtig war ich. Süchtig nach Worten. Jetzt bin ich heiser und schweige die Tage tot und schlafe die Nächte lebendig. Meine Knochen schmerzen. Sie verlieren ihr Kopfgerüst. Was für eine Kraft hatte doch immer das Wort. Welches Schmiedeeisen von Hoffnung, Mahnung und glühenden Gesellschaftsträumen hielt es inne. Nachts fiebere ich und der Schweiß läuft übers Herz hinunter. Vollgesogen mit irren Träumen wache ich morgens auf. Die Kunst, sie versagt. Die Literatur...sie krächzt nur ab und an und ansonsten schweigt sie.
Die Musik spielt wie ein kleines Kind. Sanftmütig und gehorsam. Sie müsste Bach auf brennenden Orgelpfeifen spielen, Beethoven müssten sogar die geistig Tauben hören oder Tucholsky fünf Minuten Gehör durch die müden, fahlen Straßen wie ein Orkan fahren. Landauer und Mühsam müssten die abgenutzten, ewig gestrigen Unterdrückungssysteme über die Dächer wälzen, bis sie endlich verpuffen und gen Himmel fahren. Schwarzer Mohn, der Celan an die Scheiben liest, müsste sich auf die Fensterkreuze säen und morgens wäre es erbaulich, wenn man beim Aufstehen seine Füße in ein Sonnenblumenfeld vom Aufsässigen van Gogh stellen würde. Es müsste doch an allen Ecken und Kanten scheppern und krachen. Unterjochte Kunst. Von wegen frei, von wegen...heiser wird man davon. Jedes Anrecht auf wild und ungezähmt abgegeben. Die Klarheit fiebert. Sie verschwimmt im Gesäusel der Enthaltung. Die Leinwände in den Galerien werfen ihre Farben zu Boden. Kleckern und schmieren dabei über die Signaturen. Auflösung...Auslöschung... Nein, wirklich, sagt sie. Wie soll man das ertragen? Wo ist die Würde der Kultur denn hin? Wo all das Feuer? Wie ein Stier müsste die Kunst durch die Rotstift-Hindernisse donnern. Jetzt erst recht. Aufbäumen. Konzerte mitten auf der Straße - Alle Menschen werden Brüder. Lesungen mitten auf dem Bürgersteig. Bilder wie einen Umhang am Körper herumgetragen. Gedenkstätten und Museen als Lichtprojektionen an Häuser, Mauern...
Es lebe die Frechheit der Kunst!
Lotta Blau, 2021