Bildnis einer Geschundenen/ Demokratie
Ich sehe sie jeden Tag, gehe mit ihr und sie neben mir her. Nachts vertraue ich ihr. Aber nicht mehr bedingungslos. Das ist verspielt. Sie hat es verspielt und die, die sie angreifen, sie würgen, die schütteln und verprügeln.
Ich will es nicht hören, wenn sie wimmernd in irgendeiner Ecke kauert und um Hilfe ruft, wenn sie ihre alten Lieder wieder und wieder unter erstickendem Schmerz durch alle Fenster und Türen weint. Ich will es nicht, aber sie trifft mich immer öfter.
Schaudernd und erschreckend, ja hilflos beinah hektisch, versuche ich sie zu ignorieren. Weil es mich schmerzt sie so zu sehen. Es ist nur noch so wenig von ihr übrig. Manchmal denke ich, dass sie nur noch ein dünner Faden ist, der haltlos im Wind herum flattert, wie eine hin - und her gebeutelte Fahne. Kein Mensch braucht Fahnen, aber Fahnen brauchen Menschen, die sie mit Stolz zum Himmel spießen und dabei die Wolken aufkratzen. Niemand braucht das. Stolz ist ein unwürdiges Wort für sie. Sie hätte sich anderes gewünscht. Ruhe, Frieden, Leben.
Jetzt sehe ich, wie sie sich einrollt und klein macht, weil sie immer weniger wird. Immer unscheinbarer ihr Wesen, das einmal so viel Hoffnung in ihr lebte, davon ist nicht mehr viel zu merken. Beinah meine ich, sie ist am Ende ihrer Kräfte und dem, was sie alles richten sollte und was sie auszuhalten hatte, in ihrer doch recht unvollständigen Rolle. Nun wirkt sie auf mich nur noch wie ein Skelett, ein Knochengerüst, vollkommen abgemagert. Aber an ihrem Gerüst hängen sämtliche Anklagen...aller, die gelitten hatten.
Immer denk ich: Es wird einmal ein Tag kommen, aber er kommt und kam nicht. Einfach so...umsonst war es auch nicht, das Hoffen, Bangen und Wünschen. Das Sehnen, sie möge standhalten dem, was war und ist und dem was kommen wird.
Da bin ich mir nicht mehr sicher und spüre ihre, wie meine Unsicherheit. Die Schuhe, die man ihr viel zu rasch und schnell anzog und lieh, die waren zu groß und es musste ja so kommen: Sie rutschte mit ihren wackeligen, dünnen Beinen immer wieder aus ihnen heraus und tat sich dabei weh.
Man zog ihr ein weißes Kleid an, unter dem es blutete und das alte, geronnene Blut, es roch, ja es stank und immer, wenn ein Windhauch kam, und unter ihr getränktes Kleid wehte, dann hob sich ein süß - säuerlicher Geruch über die Laternen unter denen die Motten tanzten. Die, mit dem Totenköpfen drauf. Die sah man dann mit offenen Flügeln umher huschen und manche von ihnen setzten sich erschöpft auf den Boden. Einige wurden dann zertreten. Trotzdem wurden es nicht weniger, weil immer neue dazu kamen.
Tagsüber schliefen sie dann in ihren goldenen Haaren, die sie zu Zöpfen geflochten hatte.
Der Mantel, dem man ihr damals überzog, war aus vielen Stücken grob zusammengenäht und glich einem Flickenteppich. Schwer und muffig.
Egal, wie oft er gelüftet wurde, immer wieder lösten sich aus ihm Staub und Asche. Die Taschen voller Namen, mit farbloser Tinte auf schwarzes Papier geschrieben.
Sie sollte damit leben, fortdauern, sich erheben, sollte ein Anblick voller Zuversicht werden und wurde doch ein Jammerbild.
Ich sehe über die Dächer, manchmal. Abends oder in der Nacht und sehe, wie sich im Kalten der Rauch unter die Sterne erhebt. So eng beieinander und doch so weit entfernt- Rauch und Stern.
Und die Namen, die sie hinunterziehen, wie eine depressive Gestalt, die wie große, schwere Steine an ihr ziehen - sie zu Boden und Erde werfen, in ihren Manteltaschen werden und werden nicht weniger.
Sie hat es versucht. Ja, das hat sie. Aber eine reale Chance gab man ihr nie. Wie auch, wenn man ihr schon mit der Geburt das frühe Leid mitgab?
Jetzt liegt sie im Röcheln. Es schaut so aus, als wäre sie unheilbar. Kein Wunder, bei all dem Gift, welches man in sie pumpt. Bekäme sie überhaupt einmal richtig Luft, hat sie jemals wirklich tief atmen können. Haben wir ihre Kräfte überschätzt? Viel zu viel von ihr, der Unvollkommenen und Unvollständigen gefordert, erwartet?
So schleicht sie, die Demokratie, über die Flure und schwankt dabei nach Atem ringend, will kein Kleid mehr und wirft ihren Mantel ab. Die Namen fallen in eine Regenrinne und waschen ihre Buchstaben hinein. Dann schwimmen sie in alle Richtungen und verbreiten sich rufend. Sie alle hatte sie zu tragen - sie alle, denen man Unrecht tat und sie alle wollte man verstecken, unter die Teppiche kehren. Aber sie, sie ist daran zugrunde gegangen.
Zu Tode? In unseren Armen- wird sie Abschied nehmen?
Es gibt so viele, die nur auf ihren Tod warten, die sich freudestrahlend schon zig Mal ausmalten, wie es sein könnte, wenn man sie endlich wieder begrub. Wenn man sie am Liebsten nie wieder auferstehen ließe...ihr keine neue Chance gab oder gar ihr jetzt wieder auf die Beine half. Viele, die schon die Kränze an ihre Türen hängend warten...
Die mit Demokratie nichts anfangen können, sie niemals verstehen oder gar hoffend lieben würden.
Sie, die Geschundene...
Bild und Text Lotta Blau, 2019