Befreiung
Sie hatte an die Wahrheit geglaubt. Sie war ihre Bastion. Sie hüllte sie um sich, verbarg sich darin, wehrte jeglichen Angriff auf sie ab. Sie glaubte und wog sich in ihr durch die Jahre. Doch wie hatte sie sich geirrt, als jene Wahrheit eines Tages Risse bekam und sie sich schließlich auflöste. In ihr brachen die Jahre ein, wie ein rostiges Gerüst. Es war im Herbst, als dies geschah. Morgens, in der Bahn, klatschte der Regen gegen die Scheiben. Der Alltag wartete, aber am liebsten hätte sie sich einfach irgendwo verkrochen. Niemanden sehen. Es war zu ernst. Ihre Blicke wollten sich Freiraum schaffen. Nur bitte nicht ausgerechnet jetzt Nähe. Diese Erschütterung Jahrzehnte an etwas geglaubt zu haben, das sich nun als fataler Trugschluss herausgestellt hatte, zog sie nach unten. Sie hatte zu kämpfen am Licht zu bleiben. Ein Gefühl bis dahin unbekannt. Stark und mächtig, wie ein Sog in Finsternis.
Dann setzte er sich ihr gegenüber. Sie sah ihn an und sah wieder weg. Warum aber starrte er sie so an? Kannten sie sich? Ihr kam es so vor. Dieses Gesicht. Aber es war ihr unangenehm, dass er so starrte und sie warf einen kalten Blick zurück. Doch seine Augen wandten sich nicht ab und da blieb auch sie an seinem Gesicht und Augen hängen und verlor sich darin. Es war als liefen ihre Blick einen unsichtbaren Faden hin-und her.
Ist es wahr, ging es ihr später durch den Kopf, dass es solche Begegnungen gibt, die einen retten können, weil sie gerade in jenen Momenten der Tiefe auftauchen, wie Phönix aus der Asche. Offensichtlich.
Immer grub sie jedes Wort zweimal um, wie in einem Garten ein Beet. Die Sprache ist etwas so Machtvolles, dass jedes Wort bezweifelt und hinterfragt werden muss, bis diese unzweifelhaft wird. Selbst das kann eine Täuschung sein. Dann kommt das Vertrauen ins Spiel.
Im Patriarchen der Familie sah sie das Opfer einer unglücklichen Ehe und nicht den Verursacher. Sie vertraute und glaubte seinen Berichten und Erzählungen. All die Jahre hatte sie Mitleid mit ihm. Verteidigte ihn, sah seine guten Seiten und übersah die von ihm geschickt manipulierte Wahrheit.
Darum nun grub sie das Vertrauen um, wie die Sprache. Verzieh sich diesen Irrtum, denn das ist wichtig einzusehen, dass man das ganze Leben lang auf Basis von Irrtümern lebt und handelt. Es ist doch im Vertrauen, wenn man etwas glaubt. Wie kämen wir sonst durch das Leben? Es gibt Dinge, da schweigt der Zweifel. So empfindet man das gewisse Gefühl des inneren Ankommens und Geborgenheit. Jeder Mensch benötigt das. Es ist wie eine Hülle, die uns umgibt, wie einst die schützende Fruchtblase. Leider doch immer mit der Gefahr zu platzen und dann ersteht man aus der Täuschung auf, nachdem man auf sie hereingefallen ist, ja in sie hinein gefallen war. So wird man das ganze Leben immer wieder neu geboren, denn wir irren uns ja ständig und müssen aus diesen Irrtümern auferstehen. Müssen uns immer wieder davon befreien. Die Komplexität des Lebens lässt nur eine permanente Erarbeitung des scheinbar Wahren zu, denn es muss immer wieder korrigiert werden.
Wir schälen uns Erfahrung für Erfahrung aus einem durch Verletzungen ständig wachsenden Kokon und räkeln uns nach Heilung und Licht, nach Wärme und Zuversicht und tragen so die Schichten all der Hüllen ab. Wie gut, dass die Hoffnung unsterblich ist und sie sich immer wieder selbst reproduziert. So überleben wir die Wunden und tragen sie mit uns, wie die Kinderschuhe durch das ganze Leben.
Wir müssen uns das ganze Leben lernen zu befreien…
Lotta Blau/2025
Bild:free