Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden



Im Text habe ich einen Menschen (den Bettler) mit seiner Geschichte eingearbeitet, der mir einmal begegnete und erzählte. Er verlor "seinen Jesus", seine Frau genau auf diese Art und Weise...

Schuld/ Der Sünder

Um Mitternacht hörte Gustavo die Kirchenglocken der St. Suitbertus Basilika in Düsseldorf. Die Flasche war leer, das Gedächtnis damit beinahe auch. Nur eines fiel ihm noch ein, dass er sich schuldig gemacht hatte. Dieser Gedanke rannte durch seinen berauschten Körper und zündelte die schlimmsten Wutattacken gegen sich selbst. So sehr, dass ihm die Tränen über das Gesicht hinunterrannen.
Zum ersten Mal hatte er das getan...bei Gott, sagte er, zum Geläut der Glocken...bei Gott, es war das erste Mal. Bei meiner Seele...das schwöre ich dir.
Dann wurde es still...die Gassen in Kaiserswerth waren nun beinah leer. Die meisten Wirtschaften hatten geschlossen. Da übergab sich noch einer auf dem Heimweg am Laternenpfahl und der eine oder andere war mit seinem Hund schnell für ein paar Meter Gassi gegangen. Gerade mal so lang, dass der Hund noch flink sein Bein heben konnte oder einen Haufen in Sekundenschnelle absetzte. Die Menschen haben heute für nichts und niemanden mehr Zeit, oftmals sogar für sich selbst nicht.
Gustavo stellte seine leere Flasche neben einen Abfalleimer und ging dann zurück zur Basilika. Erst musste er noch ihm - dem Großen - nahe sein...seine Seele verlangte danach.

Die Basilika war längst abgeschlossen. So setzte er sich auf die Mauer davor und begann zu beten. Verzeih mir...ich habe gesündigt...ich konnte nicht anders,...ich musste es tun. Vergib mir, sagte er. Ich muss es auch wieder tun...ich fürchte mich so sehr davor.
Viele Tage, viele Nächte hielt ich die Hand vor deinen Gläubigen aus, bat vor deinen Eingangstüren um eine Spende...sie gingen alle an mir vorbei...bei Gott ALLE! Und ich spürte ihre Blicke, die mich nicht als Mensch mehr sahen. Sie sahen mich an, als wäre ich ein Monster oder sie blickten durch mich, als wäre ich aus Glas.

Indes...mein Hunger tat mir weh...immer mehr. Ich aber wollte niemanden was zu Leide tun. Ich wollte mir selbst treu bleiben. Ehrlich, egal was käme, das schwor ich mir an jenem Tag. Keinen Alkohol mehr...aber als dann meine unheilbar kranke Frau, die mich einst davon abgebracht hatte, im Endstadium aus dem Bett fiel, sich die Knochen brach und kurz darauf starb, da war mir keine Welt mehr heilig. Da war die Welt mir ins Unehrliche und Unheilige gefallen. All das, was mich zum besseren Menschen machte, das war von jetzt auf gleich weg und hatte meine Hoffnung in schwarzen Rauch des Bösen getrieben...ich begann zu hassen...ja, Jesus...keine Liebe erreichte mich mehr...ich hasste mich, die ganze Welt in ihrer Arroganz, die ständigen Kämpfe um irgendein Hilfsmittel der Krankenkasse, die Freunde, die weg blieben...ich hasste aber am meisten mich, dass ich einmal darauf reingefallen war und doch daran glaubte, es würde nun alles gut...trotz ihrer Krankheit...dachte ich...ein paar Jahre noch...

Wie konnte ich nur so naiv sein daran zu glauben. Ich wollte es nicht anders wahrhaben...ich hätte es wissen müssen...es kann auch gleich passieren, dass sie mich verlässt. Ich drängte sie zu viel mehr, als sie eigentlich schaffte und selbst wollte...ich wollte sie eben nicht gehen lassen. Sie war mein Jesus...versteht du...sie hatte mich einst vor der Gosse gerettet. Für sie hab ich aufgehört zu saufen.
Nun ist sie weg...weil ich sie gedrängt habe...Bei Gott...mein Jesus hat mich verlassen! Und was blieb mir dann als anderer Trost? Was konnte mich so halten, mich vergessen machen, wie ein Pendel mit Weihrauch gefüllt?

Die Flasche Korn...sie konnte es und da mich das Versagen auffraß und ich ihren Körper unter dem Leichentuch ein letztes Mal küsste, den Körper Jesus, da überkam mich ein Rausch, dem ich mich hingab. Der mich vergessen ließ...alles, außer meiner Schuld.
Ich weiß nicht, was aus der Wohnung wurde...ich ließ die Schlüssel drinnen und zog die Tür hinter mir zu. Ich wollte sie nie wieder betreten. Ich konnte sie nie wieder betreten...zu sehr zerriss mich das alles...die Kleider von ihr, die Haarbänder für ihr schönes goldenes, lockiges Haar, ihr Duft, der noch in den Zimmern hing. Das Bettlaken, auf dem sie zuletzt lag...das Kopfkissen, auf dem sie den letzten Traum hatte.Sie lächelte oft im Schlaf und war so geduldig mit mir, obwohl sie der Schmerz der Krankheit auffraß. Jeden Tag ein wenig mehr. Sie erduldete alles.
Zur gleichen Zeit bröckelte vom Engel auf einem nahe gelegenen Friedhof ein Stück seiner Hülle ab. Er spaltete sich und der Riss wurde größer. Nicht mehr lange und würde in sich zusammenfallen. Gustavo war früher oft da. Nicht wegen den Gräbern, sondern wegen diesem Engel...er glaubte und hoffte doch lange, an dessen Liebe, Güte und den Schutz. Doch er begann eines Tages zu bröckeln, der Engel...das Holz in ihm wurde morsch und hatte sich die Jahrzehnte über stark verändert. Der Engel wurde immer haltloser auf seinem Sockel und Gustavo schien es, als wenn dieses Gebilde ein Abbild seiner Zeit war. Immer schneller, hektischer...immer wüster und hasserfüllter. In den Gesichtern sah er oft nur noch die Hast der Tage und die unruhigen Nächte, jener, die die Sorgen erdrückten.
Gustavo ging jetzt an der Kaiserpfalz vorbei, die mit ihren Ruinen wie ein schwarzes Kreuz der Sünde auf ihn wirkte. Sein Kopf tat so, als schauten all seine Sünden auf ihn von diesen Mauern herab. Aus dem alten Gemäuer, dem was noch übrig geblieben, vom einstigen Stolz der Geschichte, winkten ihm durch den Wind bewegte Gräser wie Zeigefinger entgegen. Was hast du getan...schrien sie Gustavo an...Du Sünder!, schrien sie...du bist ein Elender...ein Schwächling...Sünder, Sünder...klang es aus dem Gras.
Er sank auf die Knie. Gott im Himmel...wie lange muss ich noch leiden? Wie lange wirst du es mir vor Augen halten, das ich versagt habe? Wann wird es vorbei sein?

Dann stand er auf, denn er wollte ja zurück zur Basilika. Der Rhein trieb unruhig neben ihm her. In der Schwärze der Nacht sah manches Treibholz aus, als wären es Leichen...die extra erschienen waren, um Gustavo in den Wahnsinn zu treiben. Und die Wellen nannten es hörbar für ihn beim Namen mit dem, was sie an die kalten Steine warfen...Schaum...Abschaum.
Gustavo presste seine Hände zu Fäusten. Die Wut auf sich steigerte sich mit jedem Blick über all das Nächtliche. Er trat mit voller Wucht gegen einen Zaun. Tat sich damit selbst weh.

Als er an der Basilika ankam, da war er erstaunlicherweise nicht allein. Es saß eine Frau auf der Mauer. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt und er hörte sie erzählen. Bei Gott, sagte sie...wie konntest du das nur zulassen? Ich verachte dich...sie spuckte auf den Boden. Wieso hast du es nicht verhindert? Wieso hast du sie sterben lassen. Bei Gott...ich hasse dich dafür. Sie schwankte beim Trinken aus der Flasche. Sie war doch erst fünfzehn Jahre. Mich hast du zurückgelassen...mich, die sich schuldig machte und die Unschuldige hast du mir genommen. Du bist tot für mich! Verstehst du...TOT!

Dann warf sie die Flasche in Richtung der Basilika und begann zu weinen. Gustavo näherte sich ihr nur mit Vorsicht. Kannte er sich doch bestens aus damit, dass viele Betrunkene arg aggressiv werden konnten.
Hallo, sagte er zu ihr...
Sie erschrak sich. Hau ab...sagte sie.
Gut, lallte Gustavo und suchte sich einen anderen Platz. Dort begann er wieder seine Schuld zu erzählen, als würde er selbst predigen. Als wäre er der Prediger aller Sünder.
Kommt, kommt...ihr Sünden und Sündiger...kommt...auf die Mauern. Die Stufen sind nur für die, die noch gehen können. Die Gefallenen müssen sich mit den kalten Mauern zufrieden geben.

Da setzte sich die Frau zu ihm an die Füße.
Was hast Du getan?, sagte sie.
Ich habe gesündigt, sagte Gustavo...und ich werde, nein ich muss es wieder tun.
Was hast du getan?, fragte abermals die Frau zu seinen Füßen sitzend.
Mein Jesus ist durch mich gestorben, sagte er. Ich trage diese Schuld und ich habe gestohlen.
Tag für Tag, Nacht für Nacht versuchte ich mit dem Hunger ins Gericht zu gehen. Er wollte mich dazu zwingen etwas zu stehlen...Ich aber sagte: Nein...ich war immer ehrlich. Ich werde nie stehlen.
Wer stiehlt ist ein Dieb...ein Verbrecher. Niemals...doch der Hunger, er saß als Richter über mir und verurteilte mich dazu, denn eines Tages drohte ich umzukippen vor lauter Hunger. Mir war furchtbar elend. Ich übergab mich und doch kam ja nichts heraus aus dem leeren Magen. Da tat ich es...ich sündigte...ich ging durch einen Laden und schob heimlich ein verpacktes Brot unter meine Jacke. Ich hatte Glück, denn ich kam damit durch. Ich stopfte es in mich, wie ein Verrückter...am Ende vertrug ich es nicht und ich erbrach wiederum...ich übergab die Sünde dem Abfalleimer.

Ich wollte nicht mehr...die Welt war gestorben für mich..ich ging abermals in jenen Laden und stahl eine Flasche Korn. Wohl wusste ich, dass sie mich umbringen konnte...als trockener Alkoholiker. Doch es war mir egal. Jesus war tot und ich war bloß noch ein Sünder...ein Elender.
Die Frau begann wieder zu weinen...er hat sie mir genommen...dein blöder Gott. Ich bin hier, um ihm zu sagen: Du bist so gestorben für mich, wie du sie sterben lassen hast. Qualvoll...Krebs.Langes Leiden. Sozialer Abstieg einer Alleinerziehenden...Job weg, Bankkonto leer...und dann wie eine Schmarotzerin von den Ämtern behandelt. Kinder brauchen ihre Eltern...egal, wie alt sie sind...wenn sie halbtot liegen und das Gift in sie läuft, um anderes Gift des Körpers zu besiegen...Was ist dann wichtiger? Das Kapital oder das Kind, dem man die Hand im Todeskampf hält? Sind wir denn selbst dann nur noch Nummern? Und wieso müssen sie dann immer noch fleißig für die Schule lernen, während sie sich in die Schüssel übergeben - voller Schmerz, voller Ängste...Daran sieht man, was wichtig ist und was ein Mensch wirklich wert ist. Immer, egal wie, dem Kapital unterstellt.

Gustavo krampfte es alles zusammen...er bat sie aufzustehen und sich nach oben auf die Mauer zu ihm zu setzen.
Komm, sagte er...beruhige dich. Irgendwann legten sie sich beide unten an die Mauer und schliefen ein.
Am Morgen wachte er auf. Sie war weg. Er ging zum Rhein, um sich das dreckige und verweinte Gesicht zu waschen. Als er ins Wasser sah, da sah er sich an, als einen Fremden. Das bin nicht mehr ich, dachte Gustavo...kann ich nicht mehr sein,..denn mein Jesus ist ja weg. Da trieb wieder ein Stück Treibholz und er ging ins Wasser...treiben, dachte er...ich will treiben...meine Sünden will ich übergeben und treiben lassen.
Ein paar Tage später fand man ihn – angespült vor einem Rhein-Kreuz. Einer Skalierung des Flusses.
Sie konnten ihn wiederbeleben. Wie ein Wunder...niemand konnte sich das erklären. Gustavo aber hatte alle seine Erinnerungen im eiskalten Treiben des Wassers verloren. Sie kamen auch nie mehr wieder.

Er begann ein neues Leben. Er wusste nicht warum, aber er spürte ein Kreuz in sich, das ihn aufrecht hielt und doch, so schien es ihm, immer wieder beugte und für irgendwas abstrafte. Für all die Obdachlosen und Trinker hatte er Mitgefühl...aber der Gestank vom Alkohol widerte ihn an...das ertrug er nicht.

Lotta Blau