Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden



Der alte Mann ohne Schuhe

Ich war auf dem Heimweg und wartete nachts auf den nächsten Anschluss. Es war Winter und kalt.
Ich sah ihn kommen und sich an das Geländer lehnen. Er roch sehr streng nach Urin. Nicht Kot, aber sehr nach Urin. Zuerst schaute ich in sein Gesicht...seine Augen...seine Gesichtshaut war gerötet und sein Blick zu mir zurück sagte mir...es ist einer, der ist nicht mehr hier und auch nicht dort. Weit fort schien mir sein Geist schon zu sein und doch des Überlebens Willens immer wieder zurück in das Irdische.
Ich ging zu ihm, dabei sah ich auf seine Füße...dieses Bild grub sich eine Mulde in meine Magengegend. Ohne Schuhe stand er da...einige Zehen schon beinah erfroren. Alle Geschäfte zu, aber solche kranken, geschundenen Füße, die kann man auch nicht einfach in Schuhe stecken. Schmerzen...

Ich nahm aus meiner Geldbörse ein paar Münzen und gab sie ihm. Dabei sah ich ihn an und er begann zu lächeln - aus tiefsten Herzen über das ganze Gesicht - zu lächeln.Dann sprach er irgendwas auf Englisch, was ich jedoch nicht richtig verstehen konnte, da er sehr verschwommen sprach.
Von seinen Augen sah ich deswegen auf seinen Mund...um besser zu verstehen und sah, dass sein Mund innen irgendwie seltsam gerötet war. Vielleicht, weil er einfach infektiös war.

Manchmal sagen sie dann - Gott segne Dich -...und dann sinke ich noch mehr in den Boden. Sie, die, wie sie glauben, verloren zu sein, sind der Wahrheit viel näher. Viel, viel näher als jene, die sich ekeln und vorüber gehen oder die Nase noch höher tragen. Die ihre Einkaufstaschen auf einmal schützen, als würden sie von solch verlorenen Seelen gleich überfallen. Dabei ist es doch eher andersherum. Immer wieder erschlägt man sie im Schlaf oder zündet sie an. Diese Verlorenen machen sich nicht lustig über die anderen...das sind eher jene, die noch nie auf eine letzte Scheibe Brot im Schrank sehen mussten.
Wohl blickte er mich wahrscheinlich auch immer wieder an, da er es nicht gewohnt war, dass jemand neben ihm stehen blieb. Es flüchteten ja alle immer weiter weg.

Ich stellte mich also neben diesen Menschen und wartete auf meinen Zug. Eine seltsame Vertrautheit spürte ich zu dieser armen Seele. Ich weiß nicht warum und kann es schwer beschreiben. Aber es war wie eine gemeinsame Sprache, die keinerlei ausgesprochener Worte bedarf.
Als hätte ich ihn schon ewig gekannt und als wäre er der weiseste Mann.
Auch er sah mich immer wieder an...ich sah und spürte das...
Als mein Zug einfuhr und ich mich setzte, da blickte ich noch einmal zu ihm herüber und er tat das ebenso.
Leb wohl...dachte ich...und bis irgendwann.

Bild und Text Lotta Blau, 2018