Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Tage wie diese

Jeder Mensch hat...!

VERGIßMEINNICHT

Gestern war ich im K 21 und schaute mir Lars Eidingers Fotoausstellung an. Sein Blickwinkel hat mich sehr beeindruckt und erinnerte an meine eigene Sichtweise. Einige Bilder haben sich durch meine Magengrube gewühlt. Etwa, wenn eine Frau und ein Mann vor einem Schmuckgeschäft stehen und neben ihnen, auf dem Boden, ein Obdachloser sitzt, alt und gebrechlich. Da schauderte es mich. Ich dachte an Lenni, über den ich im letzten Text (Das letzte Hemd) schrieb. Vor ein paar Tagen hab ich mich wieder mit ihm bisschen unterhalten. Er erzählte mir, dass seine Frau Medikamente braucht, sie gerade beim Arzt waren, aber das Geld zur Zuzahlung hätten sie nicht. Zwölf Euro, um genau zu sein. Die Sammelbüchse, auf die er zeigte, war fast leer. Schau nur, sagte er, da ist fast nichts drinnen. Ich gab ihnen das Geld. Zum Glück hatte ich Bargeld einstecken! Wie konnte nur die Menschheit so lange mit Münzen und Geldscheinen überleben, jetzt da das Argument der Viren und Bakterien auf ihnen gegen das Bargeld geschwungen wird. Das amüsiert mich und doch macht es auch fassungslos.

Wenn du mal Hilfe brauchst, sagte er, dann kannst du auf mich zählen! Ich bin auch ausgebildeter Schlosser und einen Kranschein hab ich auch, merkte er an. Ich fragte ihn, wie er eigentlich in der Obdachlosigkeit gerutscht wäre. Nach den Berufsausbildungen war er bei der Armee und im Jugoslawienkrieg. Aus dem kam er traumatisiert zurück. Er wurde damit nicht fertig, dass er auf Menschen schießen musste. Also wahrscheinlich getötet hat. Die Albträume kamen jede Nacht. Er bekam Angst zu schlafen. Irgendwie musste er sich Abhilfe schaffen und so rutschte er in den Heroinrausch. Heute ist er allerdings in einem Ersatzdrogenprogramm. Ich sagte, dass er das Trauma aufarbeiten müsste. Er gab zurück: Das ist jetzt so lange her und damals hat das niemanden interessiert. Aber die Angst zu schlafen ist immer noch da und wird dann wohl auch immer bleiben. So hat jeder Mensch seine Geschichte. Lennis Geschichte berührt mich sehr. Es bräuchte einen seriösen Arbeitgeber, der ihm eine Chance gibt. Ich denke zusammen mit den Sozialarbeitern von fifty fifty wäre das ein guter Weg. So könnte er zusammen mit seiner Frau runter von der Straße und vor dem Winter in Sicherheit.

Eine andere Dame, ich fuhr gerade in der Bahn nach Hause, hatte ihren Fuß auf die Sitzfläche gelegt. Ob es mich stören würde, fragte sie mich. Sie hätte einen Unfall mit einem Longbord gehabt und ihr Bein sei noch leicht lädiert. Nein, stört mich nicht, sagte ich. Dann sprudelte alles nur aus ihr heraus. Sie erzählte vom Skaten. Ich habe keine Ahnung davon, sagte ich ihr. Ja, sie wäre ja selbst schuld. Sie hatte an jenem Nachmittag Alkohol und Medikamente zusammen genommen. Sie duzte mich, wovon ich eigentlich kein Freund bin, aber ich sah darüber hinweg. Einige Jahre schon hätte sie mal da und mal dort Platte gemacht. Ich schätzte sie auf Mitte/ Ende  Zwanzig vielleicht. Mich interessieren die Lebensgeschichten der Obdachlosen, sagte ich. Sie erzählte mir, dass sie eine Friseurausbildung abgeschlossen hatte. Aber Probleme mit ihrem Vater... Weiter kamen wir nicht, denn ich musste aussteigen. Aber aus dem Unfall hätte sie auf jeden Fall gelernt. Nie wieder unter Alkohol zu skaten. Ihre Hände zeigten deutliche Einstiche. Die Welt, den Schmerz, die Zukunftsangst vergessen lassen. Die Ignoranz und das Beschimpfen, oder wenn wieder einer im Winter erfror oder angezündet wurde, oder verprügelt oder bestohlen. Den Schmerz auf ein erträgliches Maß verkleinern.


Mein Weg im K21 führte mich auch zur Videomontage von Marcel Odenwald: Beweis zu Nichts.  Der Titel stammt von einem Text der Ingeborg Bachmann. Der Raum ist leer. Zwei Videowände laufen zeitgleich ab. Sind miteinander eng liegend. Da ist ein Kind, dem eine Träne aus dem Auge läuft und zeitgleich rollt ein Ball die Stufen des Mahnmals in Buchenwald hinunter. Da sind Bilder, die im Gleichschritt gegeneinander laufen, da ist der Mord, der Tod, da ist Schuld, Verdrängung und Leugnung der Nachkriegsjahre. Da sind Bedrohungen gegen Wahrheits-Worte, voller Asche, aus den Öfen geboren, aus Klagelieder der Wälder, aus den Sümpfen und an den Wänden auferstanden. Die Musik, die Töne dazu, die Bilder, sie fokussieren meinen Blick auf das Heute. Wie weit fortgeschritten das kommende Unheil bereits ist. Wie die Todesvögel auf den Tag warten. Wie sie sich kürzlich auf einem Baum in einer großen Gruppe versammelt hatten und miteinander Absprachen trafen. Völlig ungewöhnlich, ihre Sterbe-Konferenz. Die schwarzen Vögel zogen ihre Flügel unter der Sonne hindurch. Aus dem Himmel hängen Geldscheine, aus denen das blutrote Abendrot auf die Köpfe und Dächer in die Augen tropft. Eitelkeiten und Machtgelüste ziehen sich ihre Stiefel an. Bereit, die Gestern-Wege zu gehen. Im alten-neuen Gewand, bereit die Vorhänge zu ziehen, mit Fahnen die Gewissen aufzuspießen, die Herzkammern einzunehmen und die Pulse im Gleichschritt und Treueschwüren zu kommandieren.

Bild: Fragment eines Bildes/2024/Lotta Blau

Die Krähen wussten es immer vorher und waren dann auf den Schlachtfeldern. Setzten sich auf die kalten Hände und schauten in die offenen, starren Todesblicke.

Wie wandert mein Herz durch die Dunkelwälder
Herz trommelt die Schatten
wieder und wieder
der Tod käuflich
die Sprache geeitert

seit damals


Unten, in der Vorhalle, tanzt ein Hochzeitspaar für einen Fotografen. Beinah wäre er auf ihr weißes Kleid getreten. Sie gehen die Wege der Veränderungen entlang. Das Herz muss mit den Beinen gehen. Ab jetzt das Parkett der Erinnerung. Unten tanzt die Liebe, oben das Vergissmeinnicht.

                                                                                                                                                 

                                                                     In den Mauern eines Luftschutzbunkers 

in der Mahn-und Gedenkstätte Düsseldorf bis heute ein überdauerndes Gesicht.




Vergissmeinnicht
Vergissmeinnicht
Vergissmeinnicht

Vergiss nicht

VERGISS NICHT!

VERGESST NICHT!

Bilder und Text Lotta Blau/09/2024