Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden



Urteil auf Verdacht

Herr Ardi ist ein anständiger, friedvoller Bürger. Er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Politik hat ihn nie interessiert. Er lebt sein Leben und geht in seinem Beruf als Briefträger vollkommen auf. Ab und an unterhält er sich mit den Menschen, denen er die Post bringt. Er ist gerne gesehen. So ist er ganz mit sich zufrieden.

Eines Tages aber, als er wieder die Post in die Briefkästen einwarf, kam gerade Frau Maier aus dem zweiten Stock zur Tür heraus. Wie immer stark geschminkt und etwas zu riskant angezogen für ihre Figur. Fand zumindest Ardi. Mit ihr plauderte er besonders gern und sie erzählte ihm die Neuigkeiten des Bezirkes. Sonst begrüßten sie sich, diesmal aber würdigte die Maier ihn keines Blickes. Sie ging einfach an ihm vorbei. Ardi fand das seltsam, dachte sich aber sonst nichts weiter dabei. Vielleicht sei sie einfach nur in Gedanken gewesen. Er nahm sein Fahrrad und fuhr zum nächsten Haus. Etwa zwanzig Meter entfernt. Dort wohnte Leni, auch eine, die gerne einmal ein Schwätzchen mit ihm hielt. Sie tranken auch manchmal eine Tasse Kaffee zusammen. Dann bat sie ihn in ihre Wohnung. Immer nur so eine viertel Stunde, in seiner Pause. Ihr Mann war viel auf Reisen und sie fühlte sich oft allein. Die Kinder waren schon länger aus dem Haus. Sie langweilte sich und so war Ardi eine willkommene Abwechslung. Oft erzählte sie dann über vergangene Zeiten oder ihrem Hund, der schon einige Jahre tot war, um den sie aber immer noch trauerte. Wolle sie nicht einen weiteren Hund haben, fragte Ardi einmal? Aber sie lehnte ab, denn dafür hing sie ja noch zu sehr am toten Hund.
Er lehnte sein Fahrrad an die Mauer des Hauses, klingelte bei Leni und wartete. Doch sie öffnete nicht. Dann ihre Stimme durch die Sprechanlage: Hallo?
Ich bin es, sagte er. Ardi. Soll ich raufkommen?
Nein, heute nicht, sagte sie.
Das war noch nie vorgekommen, dachte er sich. Aber was soll es.
Ist alles in Ordnung, Leni?
Ja, alles gut. Danke. Du solltest jetzt besser gehen, antwortete sie barsch.
So kannte er sie nicht. Merkwürdig, dachte er sich.
Schönen Tag noch!, gab er zurück. Vielleicht bis morgen.
Ardi fuhr weiter und als er nach dem Dienst endlich daheim war, überkam ihm ein seltsames Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Am heutigen Tag wollte niemand mit ihm reden und was er ganz merkwürdig fand, waren Menschen, die er schon Jahre kannte, sogar auf die andere Straßenseite wechselten. Zufall? Hatten sie ihn nicht gesehen? Er hatte ja einmal sogar gerufen und gewunken. Doch sie reagierten nicht. Als wäre er Luft, unsichtbar.

Ardi schaute nie fern. Nur manchmal lieh er sich einen guten Film aus. Es blieb aber wenig Zeit dafür, denn er nutzte die restlich verbliebenen Stunden des Tages gerne zum Schreiben seiner Tagebücher und für Reparaturen alter Uhren. Es gab sie immer noch, die Liebhaber von mechanischen Pendeluhren, Kaminuhren, Standuhren, Armbanduhren oder als Anhänger von Ketten. Er war dafür bekannt die meisten kaputten Uhrwerke wieder in Gang bringen zu können. Das hatte sich schnell herumgesprochen und so brachten ihn die Leute seit Jahren gegen einen geringen Betrag ihre Schätze vorbei und er machte sich an die Arbeit. Stellte sich gute Musik an, gerne Klassik oder Oper, setzte seine Lupe ans Auge und begann dann mit viel Präzession und Vorsicht die Gehäuse und Zahnräder auseinander zu bauen. Schön aneinander gereiht lagen dann alle Teile vor ihm und Stück für Stück setzte er wieder, nachdem er sie gesäubert hatte, zusammen. Auch die Aufziehschlüssel durfte er nicht miteinander verwechseln. Immerhin war sein ganzes Wohnzimmer voller unterschiedlichster Uhren. Übrigens auch Kuckucksuhren waren oft darunter. Eine Art Glück und Zufriedenheit durchströmte ihn, wenn er dann zum Beispiel das Pendel einer großen Standuhr anstieß und das Uhrwerk wieder tadellos lief. Dann testete er noch den Gong und rief anschließend den Kunden an. Er könne seine Uhr abholen.
So ging das Jahr um Jahr. Auch die Tagebücher füllten sich. In ihnen notierte er unter anderem auch die Geschichten, die man ihm erzählte. Oft blieben die Menschen, wenn sie ihre Uhren abholten mehr als eine Stunde da, tranken einen Kaffee mit und schütteten ihm ihr Herz aus. So manches Mal erfuhr er mehr, als die engsten Familienangehörigen. Nur wenn es politisch wurde, wollte und konnte Ardi nicht viel wissen. Versuchte dann immer mit anderen Themen abzulenken. Es interessierte ihn einfach nicht.

Es ist Montagabend. Ardi hat gerade eine Armbanduhr repariert und ruft die Kundin an. Sie nimmt ab, legt aber sogleich wieder, ohne ein Wort zu sagen, auf. Nach einer viertel Stunde versucht er es erneut und wieder nimmt sie ab, legt dann auf. Noch immer glaubt er an Zufälle, an Verhinderungen. Am nächsten Morgen tritt er, wie gewohnt, seine Arbeit an. Wieder scheinen ihm die Menschen aus dem Weg zu gehen, wieder macht Leni nicht auf, wieder geht der eine oder andere an ihm vorüber, ohne auf sein Guten Morgen zu reagieren. Jetzt wird es aber langsam seltsam, denkt er. Irgendwas stimmt nicht. Als er Max begegnet, sie duzten sich mittlerweile, und auch der ihn wie Luft behandelt, will er von ihm wissen, was los ist. Doch der schüttelt nur mit seinem Kopf. Wie konntest du nur, sagt er nur kurz. Wie konntest du nur? Dann dreht er sich weg. Max war im letzten Monat dreiundachtzig Jahre geworden. Jeden Tag ging er mit seinem Hund eine Runde. Immer noch gut zu Fuß. Ardi geht Max hinterher.
Was meinst du?, Max. Was konnte ich?
Ich hätte das nie von dir gedacht, Ardi, sagt Max. Und jetzt lass mich in Ruhe!
Was nicht gedacht? Ardi versteht nichts. Was ist hier los?
Dann klingelt sein Handy. Sein Chef ist dran. Ardi! Sie müssen verstehen, dass ich Sie nicht länger beschäftigen kann! Zunächst beurlaube ich Sie! Das hätte ich nie von Ihnen gedacht, Ardi! Dann legt er auf.
Ardi verteilt trotzdem noch die restliche Post und fährt dann zur Dienststelle. Stellt das Fahrrad ab und will zum Chef. Doch der lässt ihn nicht herein. Frustriert fährt er nach Hause und versteht gar nichts mehr. Er war sich keiner Schuld bewusst, grübelte hin – und her, was er getan haben könnte, das solche Auswirkungen haben könnte. Aber es fiel ihm nichts ein. Dann klingelte es zweimal an der Tür und es klopfte zusätzlich. Aufmachen!, rief eine Männerstimme. Ardi öffnete und vor ihm standen zwei Polizisten. Herr Ardi, Sie sind verhaftet! Kommen Sie!
Ihm wurde übel, alles drehte sich. Aber was habe ich denn getan?, sagte er verzweifelt.
Das erfahren Sie auf der Wache! Kommen Sie jetzt! Dann legte man ihm Handschellen an und führte ihn zum Auto vorm Haus. Einsteigen!
Man setzte ihn an einen Tisch und sogleich begann man ihn zu verhören. Gegen Sie liegt eine Anzeige vor! Und wir ermitteln in drei Verdachtsfällen gegen Sie!
Was für Verdachtsfälle, sagte Ardi? Was meinen Sie?
Wo waren Sie am Montagabend gegen einundzwanzig Uhr?
Ich war daheim und habe eine Uhr repariert. Aber was wirft man mir denn vor?
Haben Sie Zeugen dafür?
Ja! Oder besser nein. Aber ich rief eine Kundin an, um ihr zu sagen, dass sie ihre Uhr abholen kann. Das war, glaube ich, gegen einundzwanzig Uhr. Schon reichlich spät und ich war müde, wollte ihr aber noch eine Freude machen. Also rief ich sie an. Sie legte aber auf und nachdem ich es noch einmal versucht hatte, verschob ich es auf den nächsten Tag und ging schlafen. Sagen Sie mir endlich, was man mir vorwirft?
Sind sie politisch, Herr Ardi?
Nein! Politik hat mich nie wirklich interessiert. Warum?
Kennen Sie sich gut mit Computern aus?
Nein! Ich habe noch nicht einmal einen! Was ist denn hier los?
Also gut, sagt der Beamte, Sie stehen im dringenden Tatverdacht der Kopf eines Komplotts zu sein. Einer Organisation, die Computer hackt, um an politische Informationen zu kommen und was beinah noch schlimmer ist, Sie stehen im Verdacht ein Spion zu sein, der geheime Papiere an den Feind überliefert.
Feind? Geheime Papiere? Wie bitte? Das darf doch nicht wahr sein! Ich?! Wie kommen Sie darauf? Wer sagt das? Ich verstehe nichts mehr! Welchen Feind überhaupt?
Gestern Abend einundzwanzig Uhr hat es jemand geschafft geheime politische Dokumente zu hacken, sie zu kopieren und sie zu verbreiten. Sie sollen auch Algorithmen so verändert haben, dass die Flughäfen damit infiziert sind und alle Männer mit Bart als Terroristen kennzeichnet. Leider sind auch die Flugzeuge selbst damit verbunden und es besteht die Vermutung, das klären wir gerade noch hoffentlich rechtzeitig, dass ein spezieller Algorithmus dafür sorgen soll, dass diese Maschinen abstürzen. Ardi!, schreit der Beamte! Wissen Sie was das bedeutet? Sie bringen möglicherweise tausende Leben in Gefahr! Reden Sie! Los!
Sind sie verrückt geworden!?, stottert Ardi. Ich hab noch nicht einmal Ahnung von einem Computer! Wie sollte ich denn dann so etwas tun? Und außerdem widerspricht es mir sowieso! Ich könnte nie jemandem was antun! Ich will einen Anwalt sprechen!
Dann legt der Beamte ihm ein Foto vor.
Sind Sie das?
Ja, aber...woher haben Sie das? Ich kann mich nicht erinnern in den letzten zehn Jahren überhaupt auf einem Flughafen gewesen zu sein! Ich bin das offensichtlich auf dem Bild, aber ich bin es auch wieder nicht. Das muss eine Verwechslung sein! Bitte! Glauben Sie mir doch!
Ja, haben Sie denn keine Nachrichten gesehen, Ardi? Nach Ihnen wurde gesucht, genau mit diesem Bild!
Ja, aber...ich versteh das nicht! Das kann nicht sein! Vielleicht sieht mir jemand ähnlich! Bitte...bitte überprüfen Sie das doch! Ich bin das nicht, da auf dem Foto! Heutzutage kann man alles manipulieren! Vielleicht will mir jemand schaden! Ich wusste das nicht, nein! Ich schaue beinah nie fern.
Hm, sagt der Beamte...wir haben gerade ihre Kundin erreicht. Sie bestätigt, dass Sie angerufen hätten. Aber das beweist leider nichts, außer, dass Sie daheim waren. Sagen Sie uns, wo Ihr Computer versteckt ist, wer Ihre Hintermänner sind und wem sie Material liefern! Kommen Sie schon! Machen Sie den Mund auf! Nennen Sie Namen!
Wie ich schon sagte, ich hab keinen und ich weiß immer noch nicht, was eigentlich wirklich los ist. Ein Albtraum! Wo bleibt der Anwalt?

Das Verhör dauerte Stunde um Stunde und immer wieder wurden Ardi die gleichen Fragen gestellt. Doch was sollte er sagen? Aus seiner Sicht hatte er ja alles erzählt. Ihm war klar, dass es entweder eine Verwechslung war oder aber jemand wollte ihm absichtlich schaden, ihn benutzen. Das sein Bild nun samt Suchmeldung in den Medien war, das war ungeheuerlich, empfand er als unwirklich, surreal und nun wurde ihm auch das seltsame Verhalten der Leute klar. Aber sie kannten ihn doch so viele Jahre, warum glaubten sie diese Vorwürfe? Mein Leben ist vorbei, dachte er. Kann ich bitte einen Kaffee haben? Der Beamte holte einen. Hier! Nach der Pause geht es weiter! Und es ging weiter mit immer den wiederholenden Fragen. Bis zum nächsten Tag! Dann durfte er sich ein paar Stunden in einer Zelle ausruhen.
In der Zwischenzeit und auf Drängen des nun gerade erschienen Anwalts wurde das Bildmaterial nochmals zur Überprüfung an ein Speziallabor gegeben. Das könne aber schon etwas dauern, bis ein Ergebnis da wäre.

Am nächsten Tag:
Ich möchte meinen Mandanten kurz allein sprechen! Dem wurde stattgegeben. Der Beamte verließ den Raum. Guten Tag, Herr Ardi! Ich bin von nun ab Ihr Anwalt und Verteidiger! Unterschreiben Sie bitte hier, wenn Sie einverstanden sind. Mein Name ist Braksch.
Sie müssen mir jetzt die Wahrheit sagen! Sind Sie das auf dem Foto? Und haben Sie was mit diesen Vorwürfen zu tun? Wo waren Sie zu der Zeit?
Ardi erzählte ihm noch einmal alles, was er auch schon den Beamten gesagt hatte. Gut, sagte Braksch, Sie müssen mir vertrauen. Wir warten jetzt auf die Analyse des Labors.
Glauben Sie mir denn? Ardi schaute Braksch hoffend auf ein Ja eindringlich an.
Ja, ich glaube Ihnen, aber es geht um Fakten. Wir müssen beweisen können, dass Sie mit der Sache nichts zu tun haben! Dann ging er.
In Ardis Kopf spielten sich allerlei Szenarien ab und er bekam Angst. Was, wenn man eben seine Unschuld nicht beweisen kann? Was dann? Und was, wenn tatsächlich ein Flugzeug auf Grund der manipulierten Algorithmen abstürzt und man ihm die Schuld dafür gab? Er hatte schon einmal davon gehört, wie unzuverlässig und verletzbar angebliche Sicherheiten sein können. Max war es sogar, der ihm einmal von gehackten Herzschrittmachern erzählt hatte. Er hatte selbst einen und darum war er an dem Thema natürlich interessiert. Stell dir das mal vor, sagte er zu Ardi, angenommen du lebst in einer Diktatur und bist denen nicht geheuer oder so und dann schalten sie dich einfach damit aus. Oder wenn es eine Verwechslung ist und du hast nichts getan, bist vielleicht sogar der treueste Regierungsfreud und trotzdem erwischt es dich fälschlicherweise! Max und seine Geschichten, dachte er damals. Und nun? Nun war er selbst in einer beängstigenden Matrix von Schuld, Unschuld, Vorwürfen, Verdächtigungen und Furcht gefangen. Und im Urteilen. Im Grunde hatten alle, die er kannte und denen er begegnete sofort ihr Urteil gefällt! Schuldig also! Ja, sie hätten es ja nie von ihm gedacht, dachten und sagten sie!

Und dann geschah es! Es stürzte tatsächlich ein Flugzeug ab! 180 Passagiere samt Piloten überlebten es nicht. Die Maschine stürzte ins Meer. Die Auswertungen liefen zwar neben der Bergung und Suche der Leichen, aber man ging davon aus, dass es ein technischer Fehler gewesen sein muss, ein Algorithmenfehler! Den letzten Anweisungen und Worten des Piloten entnehmend, so Spezialisten.
Mittlerweile lag die Analyse des Speziallabors vor. Das Foto wurde tatsächlich manipuliert. Es stellten sich weitere Fragen. Warum wurde Adri benutzt? Und dennoch waren alle weiteren Fragen noch offen. Zumindest hatte man tatsächlich bei der Durchsuchung keinen Computer gefunden und auch sonst keinerlei Anhaltspunkte für die Vorwürfe. Zudem hatte man übersehen, dass Adri noch nicht einmal einen Internetanschluss hatte und ließ ihn darauf hin frei.

Doch die Menschen glaubten weiterhin an seine Schuld. Niemand brachte ihm mehr Uhren zum Reparieren, seinen Job hatte er auch verloren und man dachte nicht daran, ihn wieder einzustellen. Er vereinsamte und zog schließlich weg.

Und dann wachte er auf! Schweißgebadet. Er sah auf die Uhr. Einundzwanzig Uhr! Wusste nicht gleich, wo er war, was Realität, was Traum. Sammelte sich schließlich und stellte erleichtert fest: Es war ein Albtraum! Zugleich dachte er: Wie schnell doch jemand in ein Fadenkreuz, in eine Matrix, gelangen kann! Vielleicht sollte er vorm Schlafen keine Thriller mehr lesen und vielleicht war er auch zu früh im Bett! Er stand auf, machte sich eine Zigarette an und schaute zu den Sternen. Ein Flugzeug mit seinen blinkenden Lichtern war zu sehen. Er atmete tief ein und stoß einen ebenso tiefen Seufzer aus!

Bild und Text Lotta Blau, 04/2022