Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden



Fremde Tage

I.

Johann sagte, er hat nie den Anfang gemacht. Immer waren es die Frauen, die zu ihm kamen. Bei ihr war es anders. Er musste sie mehrmals bitten sich zu treffen. Eigentlich wollte sie nicht. Es war Zufall, dass sie sich überhaupt über den Weg liefen. Damals, es ist lange her.

Als sie zusammen am Rheinufer spazieren gingen, legte er seinen Arm um sie. Sie fand es befremdlich, denn sie begegneten sich erst vor ein paar Stunden.Viel zu viel Nähe, wo noch keine echte sein dürfte. Diese war eine Trugbild, eine Täuschung. Sie kannten sich noch nicht. Überhaupt kann niemand den anderen wirklich kennen. Noch nicht mal jemand sich selbst. Der innere Dschungel besteht ein Leben lang und bleibt ein unabholzbares Dickicht. Jeder ist Wir. Geformt aus Bewusstsein, Unterbewusstsein und anderen Ebenen, die das Tägliche ausmachen. Die gedachte und gewünschte Liebe bleibt irrational, bleibt ein rieselnder und bröckelnder Sandstein, der sich schillernd zeigt, wenn er gerade ins Stocken kommt. Sie kann alles sein und sie kann nichts sein. Liebe. Nur wenn sie ist, dann ist sie auch. Aber sie ist ein Gebilde, ist wie ein Virus, das sich verändert. Sie atmet sich ein und aus, abhängig von Symbiosen des Alltäglichen, das sich in den Anfängen nichtig schlafen legt, um nach der Verliebtheitsphase wie ein wildes Tier wieder zu erwachen und Futter braucht. Dann beginnt es danach zu suchen und frisst langsam seine Beute. Dann zeigt sich, wie viel Tiefe und Chancen es für andauernde Liebe überhaupt geben würde.

Gerade war sie neugierig. Was ist er für ein Mensch? Sie schaut ihm ins Gesicht. Er wartete auf eine Reaktion. Was tut sie nun, da ich sie gerade erlege, wie ein Wild. Es stößt sie ab. Sie findet es Distanz- und Respektlos und ärgert sich darüber.  Sein Triumph soll es nicht bleiben. Sie weicht aus seinem Arm und geht zur Brüstung an der Promenade. Der Turm vom Schifffahrt-Museum wirft einen Schatten auf sie. Die Luft schon vollgesaugt mit Herbstdüften. Strudel im Rhein, die sich selbst verschlingen. Musik von anliegender Gastronomie. Sie kehrten in eine ein.

Er blieb im Jagdmodus. Zündete sich eine Zigarette an und beäugte sie kämpferisch von der Seite. Dann begeht er einen Fehler und beginnt von der letzten Beziehung zu erzählen. Permanent unterwegs, ach bedauerlich, dass sie nie in den Urlaub mit ihm wollte, weil Ferien für sie dann in ihrem Haus und ihrem Garten war. Marie schaltete ab. Seine Worte verlaufen sich im Raum. Sie blickt auf seinen Mund, seine Lippen, die gerade sein Verderben formen. Er habe sich dann getrennt.

Ich weiß keine Antwort auf deine Geschichte, sagt sie. Nur eines weiß ich, es ist oft besser sich zu trennen, als sein Leben im Siechtum zu verbringen. Ich wünschte meine Eltern hätten sich früher getrennt. Wieso, will Johann wissen. Marie wollte eigentlich nicht ins Detail gehen. Er war fremd für sie. Zunächst sagt sie nichts und überlegt, was sie antworten solle. Dann erzählt sie doch. Sie waren mit sich selbst beschäftigt und ich als Kind, lief eher nebenher, sagt sie. Dadurch war ich viel alleine und das war gut so, aber es fehlte die Balance. Es fehlte das Begleiten ins Leben hinein. Das habe ich mir selbst erarbeiten müssen. Es gab ein paar Regeln, die auch streng waren, aber ansonsten fühlte ich mich vogelfrei. Ich nahm das auch an und nutzte das. Ob es stundenlanges Wandern oder ob es das völlige Versinken im Entdecken war. Ich las viel, schrieb und malte auch damals schon. Niemand hat mich gestört. Ich war so oft allein und liebte es. Ich litt nicht darunter. Ich litt nur unter dem Gefühl irgendwie unsichtbar für meine Eltern zu sein. Und ich brauche und liebe die Einsamkeit bis heute. Immer wieder, so oft es geht. Ich empfinde sie nicht als was Schlimmes. In unserer Gesellschaft wird ja alles immer so schrecklich stigmatisiert. Sei nicht traurig, dann bist du schwach, sei nicht einsam, dann muss man dich bedauern, sei nicht allein, das geht doch nicht. Und so weiter. Als Ausgleich fuhr ich mit dem Fahrrad zu meinen Großeltern. Das war Zuhause für mich. Die Bibliothek, Kunst, Musik und die vielen Instrumente, der Garten, die alten Standuhren mit ihrem Gong, der alte Wein unter der Wellpappe. Dort traf man sich mit Freunden. Vor allem Herzlichkeit und Wärme meiner Großmutter. Ich blieb dann oft über Nacht und schlief im Gästezimmer. Über dem Bett hing ein Bild, das man Großvater gemalt hatte. Ein Wolfsrudel, das ein Reh gerissen hatte. Das Blut floss in den Schnee. Es ängstigte mich in keiner Weise. Johann schüttelte es. Aber miteinander waren auch meine Großeltern nicht glücklich. Er hat sie betrogen und es setzte ihr zu. Sie starb später an einem geplatzten Magengeschwür. Verblutete innerlich. Am Tag ihres Sterbens war ich noch da. Ich wollte zu ihr, aber sie schickte mich weg. Zu ihrer Beerdigung durfte ich nicht. Das sei nichts für mich. Ich verstand es nie und ich bedauere es bis heute.

Daheim wohnte ein Eismeer, fuhr sie fort, als sie merkte, das es Johann offensichtlich interessierte. Mein Vater war der Sonnenfunken, meine Mutter der Eiskern. Sie umarmte mich nur ein einziges Mal in meinem Leben - als ich mit 19 Jahren fortging. Es war mir ebenso fremd, wie deine Umarmung gerade. Ich wollte weit weg...weg vom Eismeer. Und ich ging. Einen Rucksack und einen Koffer für ein Leben im Irgendwo. Später hab ich verziehen. Sie hatten beide selbst eine lieblose Kindheit und wussten es nicht besser. Nicht jeder schafft es zu reflektieren und aus diesem Wiederholungskreis auszutreten. Marie stützt ihr Kinn auf ihre Handflächen und ihre Arme auf der Tischkante. Sie blickt ihn an.

Johann machte sich die nächste Zigarette an und hörte ihr zu. Seine blauen Augen blickten aufmerksam zu ihr und hingen an ihren Lippen. Im Grunde, sagte sie, blieb mir meine Mutter fremd und mein Vater eher wie ein naher Fremder. Zwischendurch gab er sich schon Mühe. Fuhr mit mir schwimmen oder wir spazierten zusammen durch den Wald. Er konnte gut zeichnen und versuchte mir damit manchmal eine Freude zu machen. Einmal nahm er sie mit auf eine Jagd und sie musste danach ein Stück Wildschwein vom Spieß probieren, erzählt sie weiter. Es schmeckte scheußlich und die toten aufgereihten Tiere widerten sie an. Sie blickten mit ihren aufgerissenen Augen in ihre. Sie spürte die Anklage darin und ihre toten aufgeschnittenen Körper ekelten sie. Die Tiere taten ihr furchtbar leid. So voller Angstschweiß lagen sie da. In den Tod gehetzt oder von ihm überrascht.

Mein Vater hat uns verlassen, mich und meine Mutter, sagte Johann. Er weiß bis heute nicht, was er mir damit angetan hat.

Wieso?, will Marie wissen. Weil sie mich seitdem vereinnahmt, sagt er. Sie umklammert mich. Hast du nie mit deinem Vater darüber gesprochen?, fragt Marie. Nein, gibt er zurück. Seine Geliebte wurde nachher seine Frau. Ich kann mit ihm nicht darüber reden. Da verschließt sich alles in mir.
Dann schreib ihm eben einen Brief, schlägt Marie vor. Schreib es dir von der Seele. Gib ihm den oder wirf ihn danach in den Rhein oder vergrabe ihn. Ein Freund tat das erst nach dem Tod seiner Mutter und sagte, es hätte ihm geholfen loszulassen. Johann zieht an seiner Zigarette, nimmt einen Schluck Kaffee und schweigt. Betreten blickt er nach unten. Sie fühlt sich immer verfolgt, sagt er. Und ich muss sie sozusagen immer retten. Selbst meine Partnerinnen empfindet sie oft als Bedrohung.

Marie schweigt. Was sollte sie darauf auch sagen? Manchmal ist schweigen das Beste. Überhaupt, man muss auch miteinander schweigen können. Der Frauenerleger schweigt auch betreten. Plötzlich ist ihm das Jagen abhanden gekommen. Sollen wir gehen?, sagt er. Bisschen spazieren noch?

Sie ist einverstanden. Viel reden sie danach nicht mehr. Es blieb jeder in seiner Vergangenheit. In all den Bildern von damals.Irgendwann verabschieden sie sich und jeder fährt für sich nach Hause.
Am nächsten Morgen schellte das Telefon. Johann war dran.


Bild und Text Lotta Blau, 2020