Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Der Riese

Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein Riese in einem uralten Wald. Beinah so alt, wie der Riese selbst.

Die Menschen im Land ahnten den Riesen, doch niemand hatte ihn je selbst zu Gesicht bekommen und in so einem tiefen, dunklen Wald musste es einfach einen Riesen geben.

Allerlei Geschichten hatten sie sich im Laufe der Zeit über ihn erzählt. Manche gar schauerlich, andere hielten den Riesen für ein tragisches aber liebenswertes Geschöpf. Denn jeder reimte sich seine ganz eigene Geschichte darüber zusammen und je nachdem, wie ein jeder gestrickt war.

Eines Tages, es war gerade Markttag, hüpfte auch ein kleiner Junge zwischen den vielen Ständen und gefüllten Körben herum. Jan, hieß er, der kleine Junge und der blieb gerade vor einem Korb mit herrlich roten Äpfeln stehen.

Darf ich einen haben?, sagte er zum Bauern hinter dem Stand.

Ja, kannst du denn bezahlen?, antwortete der Bauer.

Bezahlen? Nein...ich hab leider keinen Heller, gab Jan zurück. Wir sind wohl zu arm...aber diesen einen Apfel da...den hätte ich gerne. Bitte...

Ach scher dich, du Gesindel, pöbelte der Bauer den Jungen an. Sonst hol ich meine Mistgabel...

Jan, der vorher noch nie auf dem Markt war, da er in einer Hütte am Rande des Dorfes wohnte und seine Eltern sowieso nie erlaubt hatten, dass er gehe, wich erschrocken einen Schritt zurück. Wozu auch hätten sie den Markt besuchen sollen? Es war ja kein Geld da und außerdem hatten sie ja selbst einen Apfelbaum hinterm Haus und im Garten ein paar Kartoffeln. Das reichte gerade so, dass sie nicht verhungern mussten.

Aber der Junge wuchs heran und die Welt interessiert ihn sehr. Er war neugierig auf all das da Draußen. Ewig würden seine Eltern ihn wohl nicht mehr zurückhalten können. Der Besuch auf dem Markt war wohl das erste Aufbegehren und ein deutliches Zeichen dafür, dass Jan langsam aber sicher auch erwachsen wurde.

Doch die meisten Menschen auf dem Markt waren griesgrämig und statt sich über all das Schöne, was sie mit Hilfe der Natur verkaufen konnten, zu freuen und es mit ganzem Herzen zu schätzen, ging es doch nur darum es viel zu teuer zu verkaufen.

So zog Jan weiter über den Markt und sein Eindruck blieb. Als er beinah schon auf dem Rückweg war, da kam er an einen Stand einer alten Frau, die auch rote Äpfel ausliegen hatte. Jan, nahm noch einmal allen Mut zusammen und bat um einen davon - auch ohne zu bezahlen.

Die alte Frau strich ihm über den Kopf und reichte ihm den Apfel. Da, nimm nur, mein Bub...ich schenk ihn dir, denn ich weiß, du hast kein Geld, Ihr seid arm und doch reich...

Reich? Jan glaubte sich verhört zu haben.

Ja, oh ja,...mein Junge,...ihr seid reich, auch wenn ihr arm seid.

Aber wie geht das, gute Frau?, antwortete Jan. Wir haben ja noch nicht einmal einen Heller für den Markt und kommen mit mehr als wenig durchs Leben. Ich wollte ja schon immer gerne einmal wissen, wie es ist reich zu sein. Aber ich bin doch arm und wer einmal arm ist, bleibt es wohl auch meistens.

Mein Kind, ist denn das eine Schande wenig zu haben? Glaubst du das? Die alte Frau schaute ihn fragend an.

Eine Schande nicht, liebe gute Frau...und ich danke sehr für den Apfel. Aber ich würde gerne wissen, wie es ist mehr zu haben. Ach, was könnte ich nicht alles damit Gutes tun, gab, in Gedanken an das Gute, Jan zurück. Ein Kissen für den schmerzenden Rücken seiner Mutter oder ein paar neue Schuhe für den Vater, ach oder einen Löffel Medizin für die Oma, deren Husten sich einfach nicht mehr bessern wollte. Es ist ja auch gut, dass ich nun doch noch den Apfel habe...Oder nicht?, sagte er zu der Marktfrau.

Ich gab ihn dir, weil es mir eine Freude war, dir eine Freude zu schenken, gab sie zurück. Deine lachenden Augen, dein Gesicht, das sich so freuen konnte - ja, ich sah dadurch in dein Herz und ich sah ein sehr gutes Herz. Bewahre es dir, mein Kind, denn das Leben spielt manchmal üble Töne hinein und die dringen zum Riesen im Wald...das lässt ihn wachsen und weiter gedeihen in seiner Wut gegen die Welt.

Ach?, Jan bekam große Augen...Was denn für ein Riese? Hier? In diesem Wald? Bei uns?

Ja, sagte die alte Frau. Einst war er nur ein Zwerg, ja sogar noch kleiner...ein unsichtbares Fabelwesen, welches nur erahnt werden konnte, wenn man durch den Wald ging und plötzlich stolperte...da hatte er die Schuhe aufgebunden und die Senkel zusammen geknotet...Schon immer war er garstig, aber er ernährt sich von den Bosheiten der Menschen, vom Schlechten, vom Bösen und auch Traurigen. So wuchs und wuchs er, wurde immer größer und stärker und bekommt immer mehr Macht uns zu zerstören. Denn das plant er schon sehr lange...uns will er auslöschen und sich alles andere zum Untertan machen. Drum pass gut auf dich und die deinen auf...schenk Liebe, mein Kind...hier, nimm noch einen Apfel und dann geh besser nach Hause. Deine Eltern sorgen sich schon. Als Jan nach dem Apfel griff und ihn nahm war auf einmal die Alte verschwunden.

Gerade wollte Jan fragen, woher sie denn wüsste, dass es ihn überhaupt gäbe, wenn ihn doch noch nie jemand gesehen hat...Seltsam, dachte er.

Jan überwältigte eine ungeheure Neugier und doch zugleich Ehrfurcht vor dem Riesen. Er beschloss nicht nach Hause zu gehen, sondern mit seinem Proviant den Riesen zu suchen. Er wollte ihn einmal sehen und in seiner noch kindlichen Vorstellung wollte er mit dem Wesen sprechen und ihn fragen, warum er denn die Menschen vernichten wolle. Außerdem wollte er ihn unbedingt einmal wirklich zu Gesicht bekommen und ob er denn tatsächlich existiere, denn so wirklich glaubte er nicht daran und das die Menschen sich Schauermärchen ausdachten wusste er ja. Das taten sie, um von sich selbst abzulenken, dafür erfanden sie allerlei Hirngespinste. Und bevor er den Riesen nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wollte er so richtig auch nicht daran glauben. Also machte er sich auf. Die Eltern hatte er verdrängt und dachte nicht einen Augenblick an sie und ihren wahrscheinlich aufflackernden Kummer, dass er nicht nach Hause käme.

Der Weg zum Wald war nicht so sehr weit. Ungefähr eine Stunde ging Jan und stand dann am Rand. Er blickte hinein...stockfinster...kein Licht, kein Sonnenstrahl drang hinein...Doch, um herauszufinden ob es den Riesen gab musste er es wagen. Also ging er hinein. Kaum das er wusste wohin er ging oder auf was er gerade trat, tat er Schritt für Schritt ...immer weiter hinein in den Wald. Seltsamerweise spürte er keinerlei Angst, sondern sonderbares Vertrauen.

Merkwürdig, dachte Jan..und war ja selbst darüber überrascht. Noch immer konnte er nicht sehen, wohin er eigentlich ging. Ab und an knackte ein Ast unter seinen Füssen und manchmal hatte er das Gefühl er wäre nicht allein. Wahrscheinlich die Tiere dachte er sich.

Weiter und weiter ging er und dann - da sah er ein Licht und ein riesiges Schloß aus dem das Licht nach außen drang. Umgeben war es von einem Wassergraben und darüber zum Tor eine Zugbrücke...

Er ging näher heran, als er auf dem Wasser drei schwarze Schwäne schwimmen sah. Jeder hatte ein goldenes Halsband um und daran war eine winzige Glocke befestigt.

Wir grüßen dich, Jan...endlich bist du da. Aber sei auf der Hut...denn der Riese wird dich fangen wollen.

Woher wisst ihr, wie ich heiße?, sagte Jan erstaunt? Und wer seid ihr? Wieso diese Halsbänder?

Wir waren einst die Herrscher dieses Waldes und sind König, Königin und Prinzessin. Der Riese hat uns in schwarze Trauerschwäne verwandelt und uns die Halsbänder umgehangen. Damit wir nicht vor ihm fortfliegen tragen wir die Glöckchen...sie würden sofort klingen und den Riesen rufen. Dann wolle er uns töten, sagte er einst. Schon so viele Jahre sind wir hier gefangen. Aber die Tiere des Waldes berichteten uns du würdest uns bald erlösen und bei uns sein. Sie haben dich beobachtet.

Ich euch erlösen? Aber wie soll ich das denn nur tun? Der Junge war ratlos.

Und wieso überhaupt hat er euch verwandelt? Wie kam er denn hierher zu euch?

Nun, sagte ein Schwan, wir stritten uns einmal sehr und taten zugegeben auch Unrecht. Das hat unser Volk wütend gemacht und damals war der heutige Riese gerade in unserer Gegend am Schloss und hat nur darauf gewartet und gelauert zu wachsen - aus unserem Streit heraus. Der Riese weiß nur zu genau, dass Menschen nicht immer nett und lieb zueinander sind. Das lässt ihn umso mächtiger werden. Du musst wissen, kleiner Junge, unser Wald war nicht immer so kalt und dunkel. Das Finstere kam erst mit dem Riesen. Davor war darin ein einzig zauberhaftes Leben mit vielen Tieren, Bäumen, Pflanzen, Pilzen und so einigen anderen Fabelwesen. Elfen lebten dort und sogar ein Zauberer, der für die kleinen Wunder im Wald sorgte...ein fallendes Blatt im Wind oder ein voller Tau hängendes Spinnennetz, auch versorgte er alle, die krank wurden. Der Riese hält ihn gefangen...seitdem herrscht Dunkelheit im Wald und der Zauber ist verschwunden. Viele Tiere flohen und anderes starb durch das Finstere. Eines solltest du noch wissen...der Riese hört zum Glück mittlerweile etwas schwer...uns hilft es nicht. Aber dir. Unsere Glöckchen hört der Riese trotzdem.

Bitte hilf uns...

Aber wie, sagte Jan. Wie soll ich denn gegen so viel Böses und Mächtiges ankommen? Ich bin nur ein kleiner Junge.

Der Schwanenkönig sagte: Höre...du hast zwei rote Äpfel bei dir. Biete sie ihm an, halte sie ihm vor seine Augen und er wird sie nehmen und sie verschlingen. Diese Äpfel hat dir die Alte gegeben...auf dem Markt...sie sind verzaubert und mit Liebe gefüllt. Wenn der Riese sie essen will, dann werden sie nach dem Duften aus ihrer Schale, das er nicht widerstehen kann.

Jan, wurde es unheimlich...Aber woher wisst ihr?, sagte er zum Schwan.

Nun, du bist hier in einem Zauberwald...gab der Schwanenkönig zurück. Nichts bleibt hier verborgen und euch Menschen beobachtet die Natur sehr genau.

Die Äpfel tragen so viel Liebe in sich, sind verzaubert von dir und der alten Frau...Euer gutes Herz hat sie zu einer einzigen Liebe im Inneren werden lassen...und vielleicht gelingt es den Riesen damit zu besiegen, denn wenn er die Äpfel isst müsste jegliches Böse in ihm besiegt werden. Aber sieh dich vor...geh und verstecke dich, wenn er sie verschlingt. Die alte Frau ist unsere Waldfee...wir haben sie geschickt. Doch du musstest von allein zu uns kommen wollen...und so geschah es. Nun geh zum Riesen oder geh schnell nach Hause. Du entscheidest...

Nein, ich will euch helfen und nun bin ich einmal hier...ich wollte ihn sehen, den Riesen, darum machte ich mich auf. Denn die Leute erzählen viel, wenn der Tag lang ist. Es ist doch einfach andere schlecht zu reden, als sich selbst zu bessern. So kann jeder mit dem Finger auf den anderen zeigen und neues Böse in die Welt setzen. Wohin sollte das führen...der Riese würde immer größer und eines Tages würde er die Welt zerstören. Nein, ich geh jetzt zu ihm...

Allen Mutes zusammen genommen, betrat Jan die Zugbrücke, ging hinüber in das Schloss und stellte sich mitten vor den Thron. Da zog ein Rauch am Boden, der übel stank...es waren all die Widrigkeiten in Worten der Menschen. Überall zog sich dieser Rauch drüber und war kaum auszuhalten, als plötzlich ein schauriges Lachen hindurch dieses Nebels klang.

Was willst du Wicht?, sagte er in Richtung des Kindes.

Ich bin gekommen, um dir ein Geschenk zu machen und dich zu bitten den Schwänen ihre Freiheit zu geben.

Hahaha...der Riese lachte so laut, dass ein Kronenleuchter herunter fiel. Zum Glück neben dem Jungen. Du Wicht...sag, wie kommst du darauf ich würde tun, was du willst. Eher nehm ich dich als meinen Gefangenen und sperr dich ein. Fressen werd ich dich nicht können, denn du bist wohl ungenießbar für mich...stinkst nach Liebe und Wahrheit. Widerlich.

Aber zeig, was hast du da...und der Riese zeigte auf die Äpfel. Die riechen aber gut nach Bosheit und Niedertracht. Gib sie mir...sagte der Riese. Sie werden mir schmecken.

Der Junge rollte die Äpfel zu den Füssen des Riesen. Der hob sie auf, besah sie kurz und verschlang sie...in diesem Moment schrie er furchtbar laut auf, sank zu Boden, das es nur so krachte, krümmte sich und wimmerte...dann begann sein Körper sich zu drehen und im Drehen zerfiel er in tausend Stück und die in Staub.

Sogleich öffnete sich der Wald, Sonne drang hinein und die Schwäne waren erlöst. Ihre Halsbänder fielen ins Wasser und gingen unter. Da stand der König, die Königin und die Tochter als wäre nie etwas gewesen und fielen sich in die Arme. Dreihundert Jahre waren wir gefangen...endlich sind wir frei...Danke, liebes Kind. Wir können uns nun endlich zur Ruhe begeben. Du aber sollst das Schloss behalten und auf den Wald aufpassen. Hüte ihn gut und bleib gerecht und lass dein Herz offen, damit du auch das kleine Schöne sehen kannst,...das lässt in dir Liebe wachsen und reifen.

Dann verschwanden sie...lösten sich auf. Jan aber machte sich auf und holte seine Eltern auf das Schloss und lud alle ein mit ihm neu zu beginnen und statt Hass mehr Liebe zu geben - in die Welt und zu jedem Einzelnen...ja lehrte jeden zunächst einmal im Guten zu betrachten. Wer allerdings log musste draußen bleiben und wer weiterhin Böses in die Welt brachte auch. Was sich schnell änderte, denn sie wurden rasch einsam und erkannten den wahren Schatz des Lebens...den wahren Zauber...die Liebe kann doch so unendlich mehr bewirken, als das Schlechte und der Hass.

Lotta Blau, 2018

Bild:free