Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Der Buchfink

Wie weit war die Welt? Wohin reichte sie? Niemand kann sie fassen. Niemand kann sie sich umhängen und behaupten er kenne sie. Die Welt ist manchmal ein Zeitfetzen und manchmal wird sie zu Gestalten, die sich in eine Ecke kauern und das Erstaunen über sie zählen. Da ist zum Beispiel die Gestalt der Zukunft. Träumereien, die aus der Gegenwart hervor quellen. Wir verkennen sie. Setz dich doch bitte mal auf das Klavier. Nicht an, sondern auf, sagte der zarte Buchfink zu ihr. Dessen schwarze Farbe glänzte und spiegelte ihre Bewegungen. Hier ist jetzt Welt. Und er verkannte sie. Das komponierte Sternenlied, ihr gewidmet und geschenkt, spielte sich durch den Raum. Der Buchfink wurde verlassen und trauert. Nicht auch das noch, zwitscherte er und spielte während dessen. Seine Flügel hingen dabei nach unten. Nicht ein Mann, sondern eine Frau hatte seine Frau in ihr Nest mitgenommen.

Seine schmalen, zarten Finger befühlten die Töne, bevor er sie nach unten drückte. Er holte seinen Fotoapparat und fotografierte sie auf dem Klavier. Dann ging er zum Bücherregal und kam mit Sein und Zeit von Heidegger zurück. Solltest du mal lesen, zwitscherte der Buchfink. Sie spürte eine eigenartige Ablehnung dagegen. Gegen dieses Buch, gegen diesen Mann, gegen die verschachtelte Sprache. Ich will nicht, sagte sie. Ich kenne Passagen, das reicht mir. Ich kann irgendwie nicht. Sperre. Spiel doch weiter. Warum hörst du auf? Wegen diesem Buch? Ich will nicht, dass es das wert ist. Sterne und er, das passt nicht. Ganz im Gegenteil, sagt sie. Die Lüfte rauchen noch immer. Warum du?, sagte sie. Hast du denn nicht diese Abneigung? Gerade du? Sie las es dann ganz, dieses Buch. Ihm zuliebe und bleib dabei. Scheußlichkeit. Er blieb auch dabei: lesenswert.

Das ist einige Jahre her.

Der Buchfink hatte erst spät erfahren, dass auch er Vorfahren in den rauchenden Lüften hat. Da hatte er bereits nach dem Studium Philosophie und Literatur eine Lehreranstellung und glaubte in einer intakten Beziehung zu sein. Alle hielten die Namen in den Lüften geheim. Auf die Frage warum, sagte man ihm, man wolle ihn schützen. Die Angst hatte sich fortgesetzt. Er weinte, als er es erfuhr und kam sich betrogen vor. Ja, verraten und benommen. Empfand es wie einen Betrug an seiner Person.

Er stand auf. Kam mit einer Rose zurück und hielt sie ihr hin. Aber du, sagte er. Ihr Atem stockte. Nein, diese Rose will sie nicht. Nicht jetzt, nicht hier, überhaupt nicht. Ihre Hand bleibt auf dem schwarzen Lack des Klavierdeckels bleiern kleben. Er sieht sie an und bemerkt seinen Irrtum, zieht die Rose zurück und entschuldigt sich. Manchmal, wenn sie spazieren gingen, dann klebten seine Schritte an ihren. Meist links, linke Schlagseite. Als müsse er jeden Schritt mit ihrem vermählen. Das nahm ihr manchmal das Sinnieren, während sie ging. Dieses Aneinanderkleben raubte ihr die Gedankengänge, störte sie, durch das Berühren der Stoffe. Aus der Enge kann oft nur ein Katapult entstehen, sagte sie. Es wirft viel zu weit und zu schnell. Nimm nur einen Ton und folge ihm, das ist Tiefe. Spiel erst nach dem Verklingen den nächsten; nur aus der momentanen Emotion heraus. Diese Langsamkeit, dieses Versinken kann heilen.

Verlassene werden oft in ein Labyrinth des Schmerzes verfrachtet. Sie brauchen Zeit den Ausgang zu finden. An jedem vermeintlichen Ausgang wartet die Zeit, die weitere Gänge bloßlegt. Manche finden nie wieder raus. Der Schmerz hat sie traumatisiert. Dann versuchen sie neu zu lieben, manche stürzen sich ins Neue. Wollen sich damit betäuben. Oder glauben sich nicht im Irrgarten. Es ist dann wie ein weiteres Ich, das sich vormacht, sofort wieder lieben zu können. Verblendet vom Schmerz. Das geht dann eine Weile, das Neue lenkt ab in dieser Liebesscheinwelt, bis es der Schmerz geschafft hat aus den inneren Koffern zu kriechen. Dann wedelt er die Bilder zurück ins Herz.Und außerdem...du, sagt sie. Freunde ja, Liebe nein. Bitte versteh das.

Irgendwann zog der Buchfink weg. Nahm eine andere Stelle an einem Internat an und die Distanz schlich sich ein.Sie öffnete verbotener Weise die Dunkelkammer, in der die Bilder gerade ihre Entwicklung probten. Sie wurden unnahbar. Nur manchmal holten sie sie hervor und ahnten Vergangenes darauf. Sie hier, er dort.

Bild und Text Lotta Blau, 2021