Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Auszug: Post aus dem Surrealen/ Die Welt des Herrn Minowes

Herr Minowes gönnte sich noch ein Glas guten Wein, bevor er zu Bett ging. Es war ein anstrengender Tag und ein seltsamer, ja irrer zudem. Das Bürofenster war seit Wochen kaputt, ließ sich nicht öffnen. Das bewirkte bei ihm eine gewisse, frühe Ermüdung und er hatte Mühe sich zu konzentrieren. Vielleicht, so ging es ihm durch den Kopf, benötigte er aber auch eine Brille und machte für Samstagvormittag ein Kreuz in seinen Kalender. Schrieb dazu: Optiker.

Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Akten. Ihr Inhalt war zu sichten und dazu Berichte zu schreiben. Alle samt waren es historische Gerichtsakten, dessen Einsicht er angefordert hatte. Nach maßgeblicher und schriftlicher Begründung natürlich. Trotzdem er seine Arbeit liebte, zweifelte er zunehmend daran. Schon eine ganze Zeit beschäftigte ihn die Frage, wie sein Leben wohl wäre, hätte er einen anderen Beruf gewählt. Draußen tobte das Stadtleben. Selbst durch die geschlossenen Fenster dröhnte der Lärm. Straßenbahnen donnerten über die Schienen Richtung Innenstadt. Das Büro lag in einem alten Haus, das jedes Mal bisschen dabei bebte. Ebenso, wie der Kaffee in der Tasse, der kleine Wellen schlug oder die Pflanze am Fenster, deren Blätter zitterten. Die Zigarette verlor manchmal sogar ihre Asche, wenn er sie gerade kurz abgelegt hatte. Jedenfalls bekam er seit ein paar Tagen seltsame Anrufe auf sein Diensttelefon und merkwürdige Mails auf seinen Firmenlaptop. Manche hatten Anhänge, die er erst nach Prüfung öffnete. Sie zeigten Skelette. Von überall her kamen diese Meldungen. Aus beinah jedem Land. Die Skelette in allen möglichen Alltagssituationen, die man sich nur denken kann. Beim Kochen, beim Baden, beim Arbeiten, in der Bahn oder einfach als Spaziergänger. Er glaubte zunächst an einen Scherz, aber als ihn immer mehr Nachrichten aus immer mehr Ländern erreichten, wurde ihm das Ganze zunehmend unheimlich. Als er gerade wieder eine Mail bekam, sie öffnete, klopfte seine Sekretärin an die Tür. Er erschrak sich so sehr, dass er sie anbrüllte. Es war eine Art Reflex, für den er sich aber sogleich entschuldigte. Eigentlich wollte sie ihm nur sagen, dass sie nun nach Hause ginge. Es sei schon sehr spät. Sie wünschte ihm eine gute Heimfahrt, zupfte verlegen an ihrem Mantelkragen und ging dann wieder aus dem Büro. Ihr Parfüm hing noch eine ganze Weile in der Luft. Es roch warm und süßlich, wie ein überreifer Honigtopf. Zu viel für Minowes. Zu betont, das Liebliche.

Als Minowes dann sein Büro abschloss, zum Auto ging und einstieg, da war es schon finster. Es hatte begonnen zu regnen. Regenluft ist etwas Herrliches, dachte er sich. Sie zauberte einen ganz bestimmten Duft, der ihn immer wieder an seine Kindheit erinnerte. Es stimmte ihn froh, denn dieser Geruch holte Bilder von Blätterhaufen, durch die er rannte, wieder in ihm rauf und dann stand sein Hund aus diesen Tagen wieder vor ihm und schaute ihn mit einem Ball im Maul bettelnd in die Augen. Wie hatte er dieses Tier geliebt. Wie oft war es ihm Trost in trüben Kindertagen. Tage, an denen alles zusammenfiel, schwere Tage.

Ihn fröstelte und er stellte die Heizung im Auto an.

Schließlich war es ja schon Ende des Herbstes. Obwohl er nichts weiter draußen sah, besonnen, aber müde nach Hause fuhr, meinte er doch ab und an derlei Skelette zu sehen. Mal an der Ampel, mal auf der anderen Straßenseite. Er fühlte sich überarbeitet und freute sich auf sein warmes Wohnzimmer, auf gute Musik und vielleicht noch einen kurzen telefonischen Plausch mit Scharjowski, seinem Studienfreund. Er dachte auch an Elena. Seine Liebe aus dieser Zeit. Was Besonderes, dachte er, fühlte er damals. Und heute? Wo war all die Zeit geblieben, all die Jahre? Rauschte nicht das Leben an ihm vorbei, im täglichen Trott? Elena...sie starb letztes Jahr. Er hielt eine Trauerrede: Was ich liebte, hab ich nie verloren. Die Liebe bleibt, sie will bleiben und harrt in mir aus. Man verliert doch nicht ein Gefühl, wie einen Schuh oder ein Taschentuch. Einzig unscharf wird die Erinnerung daran mit der Zeit. Und wenn jemand starb, den ich liebte, dann behält er trotzdem sein Sitzfleisch in mir. Sozusagen lebenslänglich, wegen Liebe. Ich ziehe dem Gefühl, das ein Tausendsassa ist, meinen Lieblingspulli an. Der ist schon beschädigt, zieht Fäden, und trotzdem liebe ich ihn. Tausendsassa Liebe sticht manchmal wie ein Kaktus, wenn ein Musikstück spielt, das man einst gemeinsam hörte, wenn die Möwen im Sommerlicht den Abschied ankündigen, wenn die Pappeln vom Morgenwind geküsst werden oder ein Strudel im Rhein immer wieder Aufgang und Untergang spielt. Wenn der Mohn am Feldrand bis auf ein Blatt alle anderen schon verloren hat. Ich liebe ihn ja trotzdem, den Mohn. So unvollkommen, so verdorben, so dem Leben anhängend, trotzdem schon fast verblasster Hauch. Mein Herz verbeugt sich vor dieser Heiterkeit des Wandelns, dieser Metamorphose. Es wird beinah kindlich dabei. Es bekommt Durst nach dem Sommerregen auf der Zunge, nach fernen, phantastischen Ländern, die im Irgendwo wohnen. Irgendwo zwischen Sehnsucht und Wagnis. Zwischen abwarten und Gelassenheit. Nur den toten Körper muss ich nun ziehen lassen in seine Bestimmung. Aber das Gemeinsam bleibt ja lebenslänglich in mir. Es lächelt das kindliche Auge in mir, das die Welt so einfach und unkompliziert sehen will und es weint der erwachsene Kopf, der die Realität sieht.

Ein Scheppern holt Minowes aus seiner Erinnerung.

Lotta Blau, 2021


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