Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden



Das System



I. Ministerium des Glücks

An den Wänden, an den Litfaßsäulen und Zäunen hatte man das Motto der neuen Welt geklebt:  Jeder sollte glücklich und zufrieden sein! Die neue Welt macht dich zu einem besseren Menschen! Denken ist ein Vergehen, fühlen ein Verbrechen. Sei ein Ausführender in bedingungsloser Liebe zur Regierung! Und kleingedruckt stand drunter: Jeder kann helfen, die Zerrissenen und Unglücklichen zu melden! Hole dir deinen fünfzig Punkte - Bonus vom Ministerium der glücklichen Menschen! Rücke deinem Ziel näher fünfhundert Punkte zu sammeln. Die Belohnung wird eine virtuelle Reise zum Land deiner Wahl sein. Alles inklusive. Gönne dir eine entspannte Woche in der Reisekapsel der Virtuell-Reise-GmbH.Reisen durften sonst nur die Regierungsmitglieder. Sie reisten aber wie in der früheren Zeit. Das allerdings war genauso geheim, wie beinah alles andere, was die Privilegien der Machthaber betraf. Man achtete äußerst penibel darauf, dass niemand außerhalb davon etwas erfuhr. Sollte doch einmal etwas nach außen dringen, dann drohte  der Rauswurf aus der Regierung. Jeder Rausgeworfene wurde in den sogenannten separaten Bereich gebracht, aus dem er bis Lebensende nicht mehr heraus durfte.

Herr Wolkenring ging aus seiner Haustür, spannte seinen Regenschirm auf, hob ihn über den Kopf und blickte über die Straße.Er war ein untersetzter Herr, Mitte Vierzig, und schon mehrfach für seine Linientreue ausgezeichnet. Mittlerweile lagen fünf Orden in seiner Wohnzimmervitrine. Seine Frau hatte er wegen ihrer staatsfeindlichen Einstellung verlassen. Anfangs stritten sie sich darum sehr oft. Er versuchte ja, ihr ins Gewissen zu reden, doch es brachte nicht viel, außer noch mehr Streit. Als er dann ins Ministerium befördert wurde, war daran die Bedingung der Trennung geknüpft. Bis heute wusste er aber nicht, was aus ihr wurde. Gegenüber huschte gerade ein Schatten vorbei. Hätte er meinen können. Doch es war eine Frau, die sich beeilte. Sie wollte nicht auffallen. Schon gar nicht dem Herrn Wolkenring, einem vom Ministerium. Die Frau hieß Rita Steinhauser, war 32 Jahre alt, unverheiratet und eine jener, die zu den Unglücklichen zählte. Früher war sie Lehrerin. Längst war sie aktenkundig geworden und stadtbekannt. Es gelang ihr einfach nicht aufzuhören zu denken und sie fühlte noch immer. So oft sie es auch probiert hatte, das alles sein zu lassen, so oft war sie daran gescheitert. Und je mehr sie scheiterte, um so mehr wurde sie unglücklich. Man hatte sie zu Schulungen eingeladen mit dem schlichten Namen: Denklos! Oder auch zu Kursen, die da zum Beispiel das Motto hatten: Fühlt nicht! Zu fühlen ist schlecht für deine Mitmenschen!

Sie hatte schon viele Kurse besucht. Alle samt kamen ihr noch immer irrsinnig vor. Stundenlang mussten sie auf Monitore blicken und den Schriftzügen darauf mit den Augen folgen. Denken war gestern. Individualität ist ein Feind der Gemeinschaft! Leere deine Gefühle. Konzentriere dich nur auf die Sprache der Regierung. Folge ihr bedingungslos! Denken und fühlen verhindern dein eigenes Glücksempfinden! Denn das eine wird das andere in Gang setzen. Wenn du denkst, dann versteht das Ministerium das als feindliche Handlungsweise gegenüber der Regierung! Wenn du fühlst, dann wirst du zu oft sentimental, trauerst um die alte Welt, fühlst Liebe, die der Folgsamkeit im Weg steht! Liebe nicht, sondern begebe dich vollkommen in unsere Wahrheit! Liebe ist unnötig in der neuen Welt!
Und so weiter. Viele absolvierten diese Schulungen mit Bestnote und rutschen im Punktesystem nach oben, während sie immer weiter abglitt. Irgendwann gab man es auf und man schickte sie als Erstes zum Ministerium. Dort musste sie den Linien für "Ausgesonderte" folgen, deren Markierungen auf dem Boden angebracht waren  und sich in ein Zimmer mit graugestrichenen Wänden setzen. Es gab nur einen Holzstuhl. Kein Fenster. Die Tür ging automatisch hinter ihr zu. An der Decke war ein grelles Licht und das krachte förmlich auf ihren Kopf. Machte sogar ihre Kopfhaut sichtbar. An der Wand hingen Fotografien der Regierenden. Sie hatten alle samt ein Pokerface und keinerlei Mimik war zu erkennen. Rita musste lachen. Schnellte mit ihrer Hand zum Mund, um das Lachen zu verbergen. Zu spät. Der ganze Raum war mit Sensoren ausgestattet und die hatten bereits Meldung ins Nachbarzimmer gegeben. Über dem Türrahmen ging ein Alarm los. Die Deckenlampe stellte sich auf eine rote rotierende Farbe ein. Die Tür wurde automatisch verriegelt. Dann sprach es von irgendwoher im Zimmer: „Sie haben gerade gegen das Gesetz verstoßen! Sie haben sich schuldig gemacht und außerdem haben sie die Regierung lächerlich gemacht! Sie werden nachher zum Schnellverfahren überführt!“

In Ritas Kopf drehte sich alles. Schnellverfahren? Ihr wurde übel und sie musste sich auf den Boden übergeben. Wann war das: Nachher? Eine Stunde, zwei? Drei? Die Angst setzte ihr zu. Auch ein Gefühl, das nicht mehr gerne gesehen war. Angst bedeutete, so stand es im Statut der neuen Welt, dass Vertrauen fehlte und Hingabe zum System. Wer Angst hatte galt als misstrauisch und nicht selten unterstellte man dann den Hang zur Kritik. Man schrieb die Geschichte des Menschen um. Brauchte man einst die Angst und rief sie auf manch üble und betrügerische Weise hervor, so war sie nun ein Übel und eine Bedrohung für die Regierung.. Rita krümmte sich. Ihr Magen schmerzte und es roch nach ihrem Erbrochenem. Sie starrte auf die graue Wand. Erinnerte sich, wie es einmal war, als man noch die Freiheit hatte Mensch zu sein, so wie er nun einmal war. Mit allen Eigenschaften, allen Fehlern, allem Schönen und leider auch allem Schlechten. Die neue Regierung legte Wert auf Wertlosigkeit im Sinne von der menschlichen Beschaffenheit. Sie brauchte im Grunde nur eine Eigenschaft und das war blindes Vertrauen. Wenn das gegeben war, dann gehorchte man auch. Man tat alles, was die Oberen wollten. Die Würde des Menschen bestand aus der Aufgabe des kompletten Selbst. Quasi existierte niemand mehr wirklich. Die Meisten hatten diesen Prozess längst hinter sich. Monoton und fern allen anderen Lebens in und um ihnen, lebten sie tagtäglich den gleichen Rhythmus bis zum Tod. Geboren wurde unter staatlicher Kontrolle ebenso, wie gestorben. Man wollte sicher gehen, dass es keine Täuschung war. Denn die Regierenden durften gewisse Eigenschaften behalten. Zum Beispiel Misstrauen. Oh, sie billigten sich noch viel mehr zu. Natürlich nur, wenn sie unter sich waren oder sie sich unbeobachtet fühlten. Eigens dazu hatten sie sich einen Raum eingerichtet, in dem sie weinen, lachen, streiten, schimpfen oder ja...auch lieben durften. In ihrem Parteiprogramm hatten sie jedoch eines vergessen: Irgendwann kommt immer alles ans Tageslicht. Und noch etwas: Es machte sie schwach und es kostete sie ihre Energie, denn wer sich nach außen ständig mit eiserner Maske und Faust zeigt, nach innen aber weich wie Butter ist, der wird sich irgendwann verraten. Das ganze System war auf Kontrolle aufgebaut.

Es leuchtet an der grauen Wand eine Nummer und wieder kam irgendwoher eine Stimme: „Sie sind Nummer drei. Ihren Namen haben wir gelöscht, ihr Bankkonto, ihre Wohnung aufgelöst und soeben wieder neu vermietet, ihren Hund haben die neuen Mieter übernommen, ihre Möbel und sonstige Gegenstände ebenso. Sie sind nun nicht mehr existent. Sie sind rechtlos, würdelos, sind ein Schmarotzer des Systems, sie sind ein Schädling der Gemeinschaft, sie sind ab sofort: Nichts! Erkennen sie ihr Urteil an? Sagen sie nur Ja oder Nein! Fragen sie nicht! Jedes überflüssige Wort wird ihnen zur Last gelegt! Antworten sie jetzt!“
„Ja, aber“...entglitt es Rita.
„Sie haben ein Wort zu viel gesprochen und sich ein weiteres Vergehen dadurch geleistet!, dröhnte es. Ihre Akte haben wir mit ihren Punkten verglichen. Sie sind jetzt als Gedankengefährterin geführt. Das bedeutet, dass sie nun als Feind geführt werden. Sie müssen einen Sensor tragen, der die Menschen vor ihnen warnt. Jeder, der in ihre Nähe kommt, wird eine entsprechende Warnung über seine technische Identität erhalten und ihnen aus dem Weg gehen. Begeben sie sich nun in den Raum neben ihnen.“
Dann entriegelte sich die Tür, öffnete sich und eine Linie auf dem Boden begann zu leuchten. Folgen sie der Linie! Halten sie den Blick nur auf die Schrift. Rita ging. Die Linie endete in einem weiteren Raum. Wieder stand nur ein Stuhl drinnen. Wieder verriegelte sich die Tür.

„Nummer drei! Setzen sie sich! Schauen sie nach oben zur Decke. Halten sie den Kopf still und die Augen offen! Legen sie ihren Kopf in die Schien, die sich nun herab senkt. Blicken sie ohne zu blinzeln zur Lampe!“ Rita tat, was man von ihr verlangte. Ohnehin war sie verwirrt und verängstigt. Was würde denn nun folgen. Das Licht der Lampe wurde heller und heller, bis es so grell wurde, dass Rita Mühe hatte nicht zu blinzeln oder die Augen zu schließen. Dann senkte sich die Lampe und zwei runde Gegenstände traten aus ihr hervor. Sie sahen aus, wie Stempel. Sie hielten über ihren Augen an. Ein Gestell trat hervor, fixierte ihre Nase, setzte sich dort ab. Dann drückten sich die Stempel auf die Augäpfel und ein kurzer Schmerz trat in den Kopf. Dieses Gestell löste sich wieder, fuhr die Stempel ein und zog sich in die Lampe zurück. „Nummer drei, sie haben nun ihren Sensor. Verlassen sie nun den Raum. Richten sie sich nach der Linie!“ Rita sah wenig und sie taumelte. Es fiel ihr schwer auf der Linie zu bleiben. Sie ging wie eine Schnecke, so langsam und stolperte und fiel hin. Neben ihr eine weitere Tür. Dort arbeitete gerade Herr Wolkenring. Er hörte ihren Sturz und ging, um zu sehen, was passiert war. Manchmal waren es die Mitarbeiter selbst, die auf dem Gang herum alberten. Er öffnete seine Tür und davor lag Rita.


„Stehen sie auf und gehen sie weiter“, sagte er. Er hatte sich abgewöhnt den Menschen in die Augen zu sehen. Rita blickte ihn an. Sah immer noch nur Umrisse. Sie nickte. Wollte aufstehen, doch es gelang ihr nicht.
„Können sie mir nicht helfen aufzustehen?“
Da sah sich her Wolkenring genötigt sie anzublicken. Er schaute in ihre Augen. Und, er fand, sie hätte wundersam schöne. Ein Gemisch aus blaugrün. Er reichte ihr seine Hände und erschrak über sich. Was war das? Wie konnte er nur? Das war ein Verbrechen. Jetzt hatte er sich selbst schuldig gemacht. Und woher kam plötzlich dieses Gefühl? Als hätte etwas Macht über ihn. Schweiß trat auf seine Stirn.
„Danke“, sagte Rita. Wolkenring ließ ihre Hände los.
„ Gehen sie nun“, sagte er.

Rita stolperte den Gang entlang. Die Sehkraft kam sehr langsam zurück. Zwischendurch ging sie wieder weg. Sie schwankte zur Wand. Tastete sich weiter.

„Sie haben die Linie verlassen! Folgen sie sofort unseren Anweisungen! Wenn sie sich weiter widersetzen, werden sie interniert!“, dröhnte es im Gang. Rita taumelte zurück in die Mitte. Irgendwie versuchte sie es ja und dann konnte sie auch wieder sehen. Das heißt, eigentlich nicht wirklich, denn das, was sie sah, glich nicht wirklich dem, was die sonstige Realität ausmachte.Vor ihr war der Ausgang des Ministeriums. Die Ausgangstür hatte kein Glas mehr, sondern war aus Eisen. Sie griff nach der Klinke und drückte sie nach unten. Sie ließ sich schwer öffnen. Schließlich und endlich war sie draußen. Alles schien anders. Der Baum, den sie auf dem Hinweg noch bewundert hatte, der war verschwunden. Die vielen Autos auf der Straße zum Ministerium waren weg, die Häuser, sie waren nicht mehr da. Und es waren keine Menschen mehr zu sehen. Im Prinzip gab es nun in der neuen Welt für Rita nur noch das Gebäude des Ministeriums. Ansonsten gab es die Welt, wie sie sie kannte, nicht mehr. Als wäre von jetzt auf gleich alles wie vom Erdboden verschluckt. Ihr wurde klar, dass wohl der Sensor in ihren Augen ihr eine andere Realität erschuf. Eine, die kalt, leer und einsam war. Das war auch so gewollt. Die anderen Menschen konnte sie nur noch über das Signal des Sensors wahrnehmen. Aber auch nur das. Durch den Abstand und das Verbot sich ihr zu nähern, wusste man zwar, dass es irgendjemand gab, der neben ihnen existierte, mehr aber auch nicht. So unterdrückte man auch jegliche eventuelle Gefahr des Hinterfragens. Oder gar, dass wenn man sich doch mal über den Weg laufe sollte, die Revolte.

Rita war nicht allein in dieser Sensorwelt. Einige andere lebten neben ihr genau so. Auch ihnen hatte man die neue Realität eingepflanzt. Doch keiner würde jemals auf den anderen treffen. Oder doch?

Herr Wolkenring hatte sich mittlerweile wieder an seinen Schreibtisch gesetzt. Ihm war bewusst, dass man auch ihn beobachtet hatte, als er der Verurteilten geholfen hatte. Entsetzt und doch noch immer irgendwie seltsam verzaubert, wartete er auf Strafanweisungen. Im ganzen Gebäude waren Überwachungsdrohnen unterwegs. Sie flogen die Gänge an den Decken entlang und sendeten die Bilder beim geringsten Verdacht direkt eine Etage höher. Dort entschied man umgehend, was geschehen soll. Ob vor Ort bestraft wird und das Vergehen noch verhältnismäßig gering war oder ob das Vergehen direkt zur Führungselite gehen sollte. Natürlich musste Wolkenring nicht lange warten.
„ Sie haben sich einem Vergehen schuldig gemacht! Wer einem Feind hilft, gerät in Verdacht selbst einer zu sein! Sie haben sich umgehend dem Loyalität  - Test zu unterziehen. Sofort in Zimmer vier!“

Wolkenring wusste, was das bedeutete. Man scannte seinen Kopf. Diese Technik kam aus dem Ausland und wurde einst teuer eingekauft. Die Gedanken wurden dabei neben den Gefühlen ausgelesen und danach bewertet. Man musste dazu seinen Kopf in eine Art Kapsel stecken. Dieses Gerät benutzte man auch, um Verbrechen aufzudecken. Zumindest das, was die Regierung dafür befand. Es gab auf Grund der Beschaffenheit der neuen Menschen ja keine Kriminalität mehr, außer, jener, gegen die Regierung oder, wie im Falle von Rita, der aussichtslosen Fälle.

Als die neue Regierung gebildet wurde, hatte man schnell begonnen, die Menschen einzuteilen. Man trennte sie auf Grund von Aussagen, die man gesammelt und gespeichert hatte in eine weiße, schwarze und graue Gruppe. Zunächst geschah das nur innerhalb der Regierung, dann erstellte man einen Plan, wie man es realisieren könnte und danach setzte man es zügig um. Man bewertete nach Schwere der Aussagen, nach Häufigkeit und nach Charakter. Lange vorher hatte man begonnen für jeden Bürger ein Register anzulegen. Abgesehen von der körperlichen Beschaffenheit, den persönlichen Daten, wurden dort auch sämtliche Informationen eingetragen. Ernährungsverhalten, Kaufverhalten, Kommunikationen, schriftlich, wie mündlich, welche Einrichtungen besucht wurden, Religion, Freunde, Familie, Bekannte. Liebespartner oder Ehepartner, Sexualverhalten und selbstverständlich auch jede Krankheit, die einmal durchgemacht wurde oder fortlaufend bestand. Man analysierte alles, was im und um den Menschen geschah. Dann begann die große Auslese, wie die Oberen dazu sagten. Die drei Gruppen wurden gebildet. Die Weißen, das waren die am besten Angepassten und damit Gehorsamsten, die in der schwarzen Gruppe landeten, das waren die Gefährder. Zu den Grauen kamen all jene, die Eigenschaften von weiß und schwarz hatten. Die Weißen behielten alle Privilegien des Lebens, während man die Menschen in den anderen Gruppen von ihnen trennte und je nach Punktestand nach Regierungswunsch zu erziehen begann. Das funktionierte immer mit Wegnahme bestimmter bis dahin gewesenen normalen Lebensweise. Es wurde für sie eine Kontakt- und Kommunikationssperre verhangen. Einzige Ausnahme mit dem Ministerium.Das durfte auch jederzeit neue Regeln aussprechen, die Einzelnen zu sich bestellen, es durfte in die Wohnungen ohne Anmeldung, durfte Sperren der Gehälter und Löhne verhängen, durfte ärztliche Befunde erheben und kontrollieren, war befugt gewisse Medikamente zu verordnen und durfte sogenannte Erziehungsflächen anordnen. Diese waren entweder im eigenen Heim oder aber bei schweren Fällen im Keller des Ministeriums untergebracht. Dort sollte man lernen seine Zweifel gegenüber der Regierung und des Systems abzulegen. Überhaupt alle noch vorhandenen schlechten Eigenschaften auszumerzen. Wie lange dieser Prozess dauern soll, das entschied sich durch den jeweiligen Fortschritt des Einzelnen. Die Erziehungsflächen waren einzelne extra aufgestellte Glaswände, die man zusammengefügt hatte zu einem gläsernen Quadrat. Darin war ein Stuhl, ein WC, ein Bett und ein Waschbecken. Die Anordnungen für den Tagesablauf kam von der Decke. Alles war mit Messfunktionen ausgestattet und wurde aufgezeichnet. Die Daten flossen ohne Umschweife direkt in die Akte und wurden ausgewertet.

Rita war zu Beginn der neuen Regierung keinesfalls kritisch oder gar dagegen. Nein, sie fand, es wurde auch Zeit, das mal was geschah. Eifrig setzte sie alle Anweisungen, die an die Lehrer herangetragen wurden, um. Es machte ihr Freude, die Schüler und Schülerinnen, auf die neue Welt vorzubereiten. Ihnen das Denken abzugewöhnen und sie zu lehren, das Gefühle schlecht waren. Wenn jemand im Sportunterricht zum Beispiel hinfiel, dann erwartete sie, dass auch nicht ein einziger Seufzer getan wurde. Oder gar geheult. Natürlich passierte das hin und wieder. Dann musste beim Rektor angetreten werden. Der entschied dann, ob man es melden musste oder ob die Schule selbst bestrafen durfte. Rita fand die Idee des Systems, dass nur ein Mensch ohne denken und fühlen im Sinne der besseren Welt seiner Funktion auch gerecht werden konnte, gut. Und damit dem System zu dienen sinnvoll war. Ihr Unterricht war vorbildlich für die ganze Schule. Im Klassenzimmer hingen Bilder voller Motivationssprüche. So etwa: Jeder Mensch ist Eigentum des Systems. Oder auch: Jeder Mensch hat die Pflicht sich unterzuordnen, zu gehorchen und auszuführen. Denken schadet deinem Punktesystem. Fühlen ist Chaos. Sorge für Ordnung in deiner Sprache.

Eines Tages, Rita war gerade auf dem Weg zur Schule, geschah etwas mit ihr. Wie jeden Morgen  trat sie aus ihrem Haus, den Blick auf den Boden gerichtet ging sie den Bürgersteig entlang. An jenem Tag rutschte ihre Tasche von der Schulter. Das ganze Lehrmaterial fiel hinaus und landete in einer Pfütze. Ihr sonst so geplanter und gewohnter Tag wurde zum Chaos. In einer Welt, in der alles geplant war,  war das Chaos etwas Schlimmes. Es brachte Unberechenbarkeit hervor, aber was noch viel schlimmer war, es forderte ja gerade das Denken und Fühlen heraus. Und es bedeutete das Aufleben von Kreativität. All das war schlecht. In Ritas Kopf begann es zu rumoren. Zunächst kamen die Erinnerungen an früher zurück. Bilder aus ihrer Vergangenheit flackerten auf. Zum ersten Mal nach so langer Zeit, setzte sich etwas in Gang in ihr. Sie begann zu denken und sie spürte etwas. Sie spürte Zweifel. Und damit begann ihr Leidensweg.(...)

Auszug

Lotta Blau, DEZ.2020