Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Der leere Raum

Sonntagmorgen. Frühling. Die Linde vorm Fenster hat jetzt wieder Blätter. Ein Taubenpaar schläft nachts auf einem Ast. Sie kuscheln sich aneinander und machen sich morgens auf in den Tag. Sie sind sehr ängstlich und wenn Frau Hansen das Fenster schließt oder öffnet, dann fliegen sie weg. Ihre Angst ist allgegenwärtig und lässt sie dann flüchten. Frau Hansen mag keine Tauben. Sie hat die übliche Vorbehalte. Tauben seien schmutzig, koten alles voll und sind Krankheitsüberträger und so weiter. Am liebsten würde sie ein Gitter um den Baum setzen, aber dann kämen ja die anderen Vögel auch nicht mehr.

Frau Hansen ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und feiert nächstes Jahr ihren fünfundfünfzigsten Geburtstag. Sie arbeitet halbtags in einer Gärtnerei. Allerdings in letzter Zeit schmerzt ihr der Rücken oft unerträglich nach der Arbeit. Das viele Bücken und schwere Schleppen ist wohl daran nicht ganz unbeteiligt. Aber durch die Arbeit kann sie aus ihrem Alltag fliehen, daher will sie weiter machen, wenn möglich, denn erst vorige Woche musste sie zum Mitarbeitergespräch. Ihr Chef wollte wissen, was mit ihr sei, da sie sich sehr verändert habe. Die Kollegen hätten ihm das zugetragen und würden sich Sorgen machen. Was sei denn los? Ist daheim alles in Ordnung? Ob sie irgendwelche Probleme hätte? Sie wirke sehr distanziert, ja sogar unzugänglich. Das sei doch mal ganz anders gewesen. Ja, es wäre schon für alle eine schwere Zeit, sagte der Chef. Wenn es so weiter ginge, dann müsse er sowieso überlegen, die Gärtnerei aufzugeben. Vielleicht könne er sie noch ein halbes Jahr halten, vielleicht aber auch nicht. Den Menschen sei wohl gerade nicht nach Blumen.

Frau Hansen hörte sich alles an, doch es drang nicht wirklich zu ihr. Sie schaute ihren Chef an, schaute auf seinen Mund, wie sich die Worte formten und dann über die Lippen zu ihr flüchteten, doch das war alles. Für ihren Chef starrte sie vor sich hin. Sie selbst empfand nichts. Seit Wochen schon fühlte sie sich wie in einem leeren Raum, spürte nur ab und an einen Schmerz, wenn sie an ihre Kinder und ihren Mann dachte. Ihre Familie hatte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte auseinander gelebt. Das Berufsleben und die angespannte Wohnsituationen sorgten dafür, aber auch heute gewisse Streitigkeiten. Vor allem politische. Sie waren immer eine offene und tolerante Familie. Spendeten für Kinderdörfer und ein Tierheim, beteiligten sich an Aufruf zur Seenotrettung, und demonstrierten sogar gemeinsam für Menschenrechte. Sie diskutierten oft sogar noch Stunden danach darüber. Heute ist alles anders und sie hatten sich gänzlich verloren. Ein Sohn hatte vor drei Jahren eine Polizistin geheiratet, die Tochter einen Arzt und der Jüngste lebte eher ein unbeständiges Leben. Reiste um die Welt und dachte nicht daran sesshaft zu werden oder gar zu heiraten. Ihr Mann, ein selbstständiger Fotograf, musste im letzten Jahr sein Studio schließen. Die Kunden blieben aus. Sie hatten Angst sich anzustecken. Anfangs tat Herr Hansen alles dafür, dass sie sich sicher fühlen konnten. Er investierte in Hygienekonzepte.Tat im Grunde das, was zig andere Unternehmer auch taten und verschuldete sich dadurch noch mehr, als sowieso schon. Einst lief das Geschäft sehr gut. Es ist aber lange her. Er hatte sich eine gute Kundenstruktur aufgebaut und bekam zum Beispiel als Hochzeitsfotograf jede Menge Aufträge. Gerade am Benrather Schloss in Düsseldorf war er beinah jedes Wochenende, um die Hochzeitspaare zu fotografieren. Dann kam das Aus dafür. Es wurde kaum noch geheiratet. Das Besiegeln der Liebe fiel aus und damit ein Großteil seiner Einnahmen. Irgendwann musste er einsehen, dass je länger er wartete, um so höher der Schuldenberg wuchs. Schließlich musste ja alles weiter bezahlt werden. Dann kam der Tag, da er keinen Sinn mehr darin sah und ihm klar wurde, das es nie wieder so sein würde, wie es einmal war. Auch die Angst, dass er noch einmal investieren würde, weil er Hoffnung sah und dann doch wieder alles ins weitere Unbeständige führen könnte, machte ihm zu schaffen. Das Risiko war ihm zu hoch und er schloss seinen Laden. Seitdem geht er kaum noch aus dem Haus. Das Geschäft war sein Leben. Jetzt, da es nicht mehr existierte, fiel es ihm schwer irgendeinen neuen Sinn zu finden. Zusätzlich nahmen ihn die Streitereien mit den Kindern sehr mit. Wenn es wieder einmal dazu kam, dann nahm er seine Jacke und ging raus. Es war ihm einfach alles zu viel. Irgendwann hörte er auf sich zu pflegen. Setzte sich stundenlang auf den Balkon und rauchte eine nach der anderen. Seine Frau konnte ihn nicht mehr erreichen. Am Schlimmsten war dieser Leerraum zwischen ihnen, fand Frau Hansen. Anfangs machte sie das sehr wütend. Sie fühlte sich allein und beschloss mit Leuten von Früher zu demonstrieren. Sie fand, das müsse man tun. Aber es machte ihr auch wieder Hoffnung auf Austausch, auf Gemeinsamkeit und schließlich war sie ja kein anderer Mensch. Ihre Überzeugungen waren noch immer da. Unerhört und unerträglich war diese Ignoranz. Diese war ja immer schon da, aber während sich die Menschen immer mehr gegenseitig zerfleischten, ertranken weiter Menschen im Meer, setzte man die Kriege fort, landeten immer mehr obdachlos auf der Straße, was im Übrigen ihr und ihrem Mann auch drohte, da er ja kein Einkommen mehr hatte, sondern sogar ja ein Schuldenberg blieb. Noch konnte sie ihr Erspartes für die Miete, den Strom und das Telefon nehmen. Sie sparten am Essen. Aber wie lange noch? Ihr Lohn aus der Gärtnerei konnte nur einen Bruchteil davon auffangen.Kinder erlebten unsägliche Gewalt daheim, Frauen ebenso. Die Angst schien das Gehirn vor Mitgefühl und Toleranz zu schützen. Die meisten Münder blieben dicht und bauten Mauern auf die Lippen.

Als sie dann demonstrierte und die Polizei anrückte, da stand ihr die Schwiegertochter gegenüber. Aug in Aug. Jene Momente waren zeitlos. Sie waren Realität und doch wirkten sie wie eine ferne Welt. Was nun? Ab diesen Momenten splitterte die Familie sich immer mehr auf. Es gab heftigen Streit. Der Sohn wollte nicht mehr, dass die Mutter auf solche Demos geht. Die Schwiegertochter bat auch darum. Alle litten unter dieser Situation. Die Presse berichtete entweder gar nicht darüber oder aber in einer ziemlich skandalösen Form. Stellte die Demonstrierenden als gewalttätig und rechts hin. Und das, so Frau Hansen, ginge gar nicht. Sie war enttäuscht und verstand die Welt nicht mehr. Abstände seien nicht eingehalten wurden, berichtete die Presse. Dabei hatte man sie ja eingekesselt und da war Abstand halten nicht möglich. Leider Gottes sah man sie nun auch noch im Fernsehen und prompt bekam sie Anrufe aus der Familie. Was sie sich wohl dabei gedacht hätte? Wie sie dazu überhaupt käme gegen die Auflagen zu demonstrieren oder ob sie nun rechts geworden sei? Der Vater nahm seine Jacke und ging raus. Er kam auch nachts nicht zurück, sondern erst am Morgen. Sie roch noch seinen Restalkohol. Die Tochter erfuhr davon und kam zu Besuch vorbei. Wir alle müssen nur noch ein bisschen durchhalten und das Spiel mitmachen, sagte sie. Es wäre besser und richtig so. Die Regierung hätte recht und schließlich ginge es um unser aller Schutz. Ihr Mann stehe absolut zu allen Einschränkungen und zu kommenden Interventionen, inklusive Tests und so weiter. Aber im Vertrauen, sagte sie zur Mutter...ich selbst habe auch so meine Zweifel. Sie könne aber nicht mit ihrem Mann darüber reden. Er würde direkt abblocken.Einmal hätte sie es versucht. Er stellte direkt die Frage, ob sie nun auch eine Verschwörungstheoretikerin und Leugnerin sei. Egal, wie sich Frau Hansen auch versuchte zu erklären, es nützte nichts. Als dann auch noch der Schwiegersohn anrief und sagte, dass man vorerst keinen Kontakt mehr wünsche, brach Frau Hansen zusammen. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Demonstrationen waren zu dieser Zeit mit bedingter Teilnehmerzahl noch erlaubt und Masken hatten sie alle getragen, als auch Abstände eingehalten. Bis sie eingekesselt wurden. Sie war doch für Würde, Menschenrechte und damit sich was tut auf der Straße. Wobei sie natürlich um das Zähe dieser Wünsche wusste. Sie und rechts? Sie sah eher, das was geschah so an. Alle wussten, wie sie dachte und wie sie sich ihr Leben lang für die Schwachen einsetzte.

Leider hatten Nachbarn sie auch im Bericht erkannt. Grüßte man sich bei Begegnung bis dahin nett, so antworteten sie auf ihr Guten Tag oder Morgen nicht mehr. Sie nahm Blicke von der Seite wahr, die sie frösteln ließen. In der folgenden Zeit kam es ihr so vor, als schaltete man sich immer mehr gleich. Wich einer ab, dann wurde versucht ihn zu bearbeiten sich anzupassen. Auch in der Gärtnerei war das deutlich zu spüren. Anfangs beteiligte sie sich noch an den Gesprächen, die sich um die aktuelle politische Lage drehte. Von neun Mitarbeitern hatten sieben eine Zustimmung zur Regierungslinie. Einer enthielt sich. Sagte gar nichts dazu. Sie brachte anfangs noch ihre Bedenken und Kritik ein und verwies auch auf die steigende Armut im Lande, aber auch in den sowieso schon armen Ländern. Es machte ihr eben Sorgen und war mit ihrer Einstellung nicht vereinbar, dass der Fokus nur noch beim eigenen Bauchnabel war und diese schreckliche Blindheit entstand, die nichts mehr weiter sah. Auch nicht die Schicksale vor der eigenen Haustür. Das Menschen ihre Existenzen verloren hatten oder sich in diesem Prozess befanden davon Abschied zu nehmen.

Mit Freunden ging sie hin und wieder mal ins Kino, tanzen oder ins Theater. Jetzt war davon nichts mehr übrig. Weder die Freunde noch dass man zumindest allein irgendwo hingehen könnte. Liebe, wie Freundschaft braucht Austausch, braucht Realität, braucht Nähe. Reale Nähe, die vertraute Gespräche zulassen, von denen man weiß, sie bleiben dort, wo sie hingehören, nämlich beim Gesprächspartner oder Partnerin. Virtuell gibt keine Sicherheit für Vertrauliches und Privates. Es machte ihr Sorge, was in der Welt geschah und wie wenig nun darüber objektiv berichtet wurde. Aber all ihre Argumente prallten ab. Sie zerschlugen sich am Leerraum, der sich gebildet hatte. Sie splitterten in den Boden und zerschnitten die Nähe. Jeder weitere Schritt zueinander arbeiteten sie sich ins Fleisch und machten schmerzhaft klar, dass es keinen Sinn hatte.

Nach dem Gespräch mit ihrem Chef, sagte sie sich, es mache wohl keinen Sinn mehr. Aber sie brauchte das Geld. Sie hatte die Jahre über schon den ein oder anderen Aushilfsjob angenommen. Wollte unabhängig sein, aber auch ihren Mann bisschen unterstützen. Wollte aber, wie gesagt, auch aus dem Haus und Abstand vom Alltag daheim. Außerdem sparte sie auch und legte jeden Monat einen Teil vom Lohn zu Seite. Sie wollte ihren Mann mit einer Reise überraschen. Er wünschte sich doch immer so sehr mal nach Israel zu fahren und um gleich ein paar Monate zu bleiben. Ab und an müsse man sich eben auch mal was gönnen und sich belohnen. Schließlich wollte er auch Verwandte und Freunde dort besuchen. Aber all die Jahre konnte er sich nicht von seiner Arbeit losreißen. Selbst, als es damals sehr gut lief nicht. Er hatte Angst, es könnte anders werden und heute war alles anders. Nun gab es nichts mehr, als Scherbenhaufen und Leerräume. Zwischen ihnen, zwischen dem Uns und zwischen dem Wir. Zwischen dem Du zu Du und zwischen dem Ich zum Du oder dem Du zum Ich. Zwischen-Leere. Es braucht Füllmaterial, das Zwischen. Es braucht Besinnung und Umarmung. Es wird viele, viele Pflaster auf den Wunden brauchen und es werden wieder einmal Narben bleiben. Die vielleicht mit der Zeit verblassen, aber sie bleiben sichtbar. Sie werden erinnern und Verletzungen umwachsen. Sie werden auch versuchen zu wuchern, damit man sie nicht vergisst und sich mit den schon vorhandenen Wundgräben verbinden. Jeder wird sie haben. Jeder wird sie sehen und jeder wird versuchen sie sich zu lecken, damit es nicht mehr so weh tue. Aber sie werden weiter schmerzen und wuchern. Sie wuchern, wie Grabpflanzen in den Herzkammern. Zeit heilt nicht alle Wunden, sie kann sie höchstens verblassen. Aber man wird, wie immer, versuchen sie zu übermalen.

Bild und Text Lotta Blau, 2021